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Die Entwickelung des menschlichen Geistes schien ein Jahrtausend lang unterbrochen.

Ein System des Unterrichts, wie das in dem Reiche der Mitte, was in den heutigen chinesischen Gelehrten, beim Lesen einer Seite voll sinnloser Namen, ein eigenthümliches Gefühl von Vergnügen erweckt, hatte in der Schule der scholastischen Philosophie alles Streben nach der Erforschung der Wahrheit getödtet.

Gleich einem Baume, der durch äussere Hemmnisse in seinem Wachsthum gehindert, in den seltsamsten Windungen verkrüppelt, so verkümmerten die edelsten Kräfte in den Formen einer spitzfindigen Dialektik. Männer von anerkanntem Ruf und Gelehrsamkeit schrieben Bücher und Tractate über Gewitter, über Blutregen, worin von Allem andern, nur nicht von der Erklärung dieser Naturerscheinung die Rede war.

Ob Adam, so lange er noch ohne Sünde war, auch den Liber Sententiarum des Petrus Lombardus*)[1] schon gekannt habe – welches Alter und Kleid der Engel hatte, welcher der heil. Jungfrau die himmlische Botschaft ausgerichtet – ob es im Paradiese auch Excremente gegeben – ob die Engel griechisch oder hebräisch sprechen – wie viel tausend Engel auf einer Nadelspitze Platz hätten, ohne sich zu drängen – dieser Art Fragen und Untersuchungen, welche in unserer Zeit als gültige Beweise von Verstandesverwirrung und Narrheit angesehen werden würden, waren die ausgezeichnetsten Geisteskräfte gewidmet. Ueber die Gabe der Könige von Frankreich und England, die Kröpfe durch blosse Berührung zu heilen, wechselten angesehene Gelehrten eine Menge von Schriften; man stritt sich darüber, ob die Wundergabe an dem Thron, oder der Familie hafte, sie wurde zu den verborgenen Kräften gerechnet, welche durch die Erfahrung hinlänglich bestätigt seien.

Um den richtigen Pfad zu finden, bedarf der menschliche Geist der wegekundigen Führer; aber eine dünkelvolle Macht hielt das Licht gefangen im Kerker, es fehlten in dieser Geistesnacht die leitenden Sterne. Der Schatz, den das Alterthum an Naturerkenntniss erworben hatte, wurde seinem Werthe nach nicht erkannt oder nicht beachtet, er verlor seine bereichernde Macht.

Die Fragen der Physik wurden nach den Regeln der Disputirkunst entschieden.

Indem man auf die Erfahrung verzichtete, welche das Wissen schafft, verbannte man die echte Wissenschaft.

Durch den Mangel an Stoff für die Denkkraft verlor sich die Uebung und Geschicklichkeit, über die Ursachen der Dinge und Erscheinungen richtige Fragen zu stellen, sie zu beobachten und ihren Zusammenhang durch Versuche zu erforschen. Ein solcher Zustand macht die Herrschaft der Astrologie, der Kabbalah, der Chiromantie, des Glaubens an Hexen, Wehrwölfe, Zauberer begreiflich, dass man noch Jahrhunderte nachher die Krankheiten als Strafen des Himmels, oder als Werke des Teufels, Gebete, Amulette, Weihwasser und Reliquien als die wirksamsten Arzneien ansehen konnte. Die Geschichte des goldenen Zahns, zu Ende des sechszehnten Jahrhunderts, beweist, wie gründlich sich die Fähigkeit,

  1. *) Starb 1164 als Bischof zu Paris.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_040.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)