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die Idee. Cavendish sagt: aus brennbarer Luft und dephlogistisirter Luft entsteht Wasser; Watt sagt: Wasser besteht aus brennbarer Luft und dephlogistisirter Luft. In diesen Ausdrücken liegt ein grosser Unterschied.

Eine allzugrosse Schätzung der blossen Thatsachen ist übrigens häufig ein Merkzeichen eines Mangels an richtigen Ideen. Nicht der Reichthum, sondern die Ideen-Armuth umgiebt sich mit einem Schwulst von Lappen, oder trägt alte, zerrissene, fadenscheinige oder unpassende Kleider.

Es giebt Ideen von einer Grösse und Weite, dass sie, auch völlig durchlöchert, immer noch so viel Stoff übrig lassen, um die Denkkraft einer ganzen Generation ein Jahrhundert lang zu beschäftigen. Eine solche Idee war das Phlogiston.

Das Phlogiston war ursprünglich ein Begriff, und die Frage nach seiner materiellen Existenz so lange ohne alle Bedeutung, als die Idee desselben noch Früchte bringend für das Ordnen, und befruchtend für neue Verallgemeinerungen war. Indem man die Eigenschaft des Gewichtes in die Erklärung mit aufnahm, entdeckte man die Abhängigkeit des Vorganges von einem besonderen Bestandtheile der Luft, die Erscheinung an sich war aber damit nicht besser wie früher erklärt. Das Verhältniss, um wie viel die Luft oder ein Körper beim Verbrennen schwerer wird, war Stahl nicht bekannt, und in welcher Beziehung der Zersetzungsprocess, in dessen Folge Licht- und Wärmeentwickelung statt haben, zu dem Verbindungsprocess oder zu dem Leichter- oder Schwererwerden steht, dies ist ein Problem, das heute noch zu lösen ist. Was Stahl für die Hauptsache hielt, lassen wir zur Seite liegen; dies ist der Unterschied.

Was naturgesetzlich sich entwickelt, kann nicht schneller gehen, als es geht. Erst nach der Bekanntschaft mit dem Verhalten der tastbaren Dinge konnte eine Chemie der unsichtbaren Körper sich gestalten. Der heutige Begriff einer chemischen Verbindung ist aus der pneumatischen Chemie hervorgegangen; zu Stahl’s Zeit war der Begriff von dem chemischen Charakter eines Gases oder der Luft noch nicht entwickelt. In der Volumabnahme, in dem Verschwinden eines Gases, da sah und erkannte man erst die chemische Anziehung.

Hales sah (1727) aus einer Menge von Körpern, durch die Einwirkung des Feuers, Luft sich entwickeln; alles, was Luftform und Elasticität besass, war für ihn Luft, der auffallende Unterschied des kohlensauren Gases, der brennbaren Gase und der gemeinen Luft fiel ihm gar nicht auf. Die Volumabnahme eines Gases bei Berührung mit Wasser, oder in der Verbrennung, erklärte er, nicht durch eine Auflösung oder durch Verbindung, sondern durch den Verlust des Ausdehnungs-Vermögens.

Black’s meisterhafte Untersuchungen legten den ersten Grund zur antiphlogistischen Chemie. Der Fundamentalversuch Lavoisier’s, die Verkalkung und Wiederherstellung des rothen Quecksilberoxyds, und die Aufsaugung und Entwickelung eines Bestandtheiles der Luft während dieser Processe, ist nur eine Nachahmung der Versuche Black’s über den Kalk und die Alkalien. Als Black nachwies, dass der ätzende Kalk, wenn er an der Luft liegt, in milden Kalk übergeht, indem er an Gewicht zunimmt; als er zeigte, dass diese Gewichtszunahme von der

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_037.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)