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um sie ins Leben zu rufen und in 1500 oder 2000 Jahren auf den Standpunkt zu bringen, auf dem sie sich heute befindet, würde sie auf’s neue geschaffen werden müssen. Es war dieselbe Macht, welche mit und nach Columbus tausende von Abenteurern ihr Vermögen und Leben wagen liess, um eine neue Welt zu entdecken, welche in unsern Tagen Hunderttausende treibt, die Felsengebirge des Westens in Amerika zu übersteigen, um Cultur und Gesittung gleichmässig auf diesem Theil des Erdballs zu verbreiten.

Um zu wissen, dass der Stein der Weisen nicht existirte, musste alles der Untersuchung und Beobachtung Zugängliche, entsprechend den Hülfsmitteln der Zeit, untersucht und beobachtet werden; darin liegt aber der an’s Wunderbare grenzende Einfluss dieser Idee: ihre Macht konnte erst gebrochen werden, wenn die Wissenschaft eine gewisse Stufe ihrer Vollendung erreicht hatte; Jahrhunderte hindurch, wenn Zweifel erwachten, und die Arbeitenden in ihren Bemühungen ermatteten, trat zu rechter Zeit ein räthselhafter Unbekannter auf, der einen hervorragenden glaubwürdigen Mann von der Wirklichkeit des grossen Magisteriums überzeugte.

Ein der Wissenschaft Unkundiger, der sich die Mühe giebt, eine einzige Seite eines Handbuchs der Chemie durchzulesen, muss in Erstaunen versetzt werden von der Masse der einzelnen Thatsachen, welche darauf verzeichnet sind; ein jedes Wort beinahe in einem solchen Werk drückt eine Erfahrung, eine Erscheinung aus. Alle diese Erfahrungen boten sich dem Beobachter nicht von selbst dar, sie mussten mühsam aufgesucht und errungen werden. Auf welchem Standpunkt wäre die heutige Chemie ohne die Schwefelsäure, welche eine über tausend Jahre alte Entdeckung der Alchemisten ist, ohne die Salzsäure, die Salpetersäure, das Ammoniak, ohne die Alkalien, die zahllosen Metallverbindungen, den Weingeist, Aether, den Phosphor, das Berlinerblau! Es ist unmöglich, sich eine richtige Vorstellung von den Schwierigkeiten zu machen, welche die Alchemisten in ihren Arbeiten zu überwinden hatten; sie waren die Erfinder der Werkzeuge und der Processe, welche zur Gewinnung ihrer Präparate dienten, sie waren genöthigt, alles was sie brauchten, mit ihren eigenen Händen darzustellen.

Die Alchemie ist niemals etwas anderes als die Chemie gewesen; ihre beständige Verwechslung mit der Goldmacherei des 16. und 17. Jahrhunderts ist die grösste Ungerechtigkeit. Unter den Alchemisten befand sich stets ein Kern echter Naturforscher, die sich in ihren theoretischen Ansichten häufig selbst täuschten, während die fahrenden Goldköche sich und Andere betrogen. Die Alchemie war die Wissenschaft, sie schloss alle technisch-chemischen Gewerbzweige in sich ein. Was Glauber, Böttger, Kunkel in dieser Richtung leisteten, kann kühn den grössten Entdeckungen unseres Jahrhunderts an die Seite gestellt werden.

Manche leitende Ideen der gegenwärtigen Zeit erscheinen dem, welcher nicht weiss, was die Wissenschaft bereits geleistet hat, so ausschweifend wie die der Alchemisten. Nicht die Verwandlung der Metalle, welche den Alten so wahrscheinlich schien, sondern viele seltsamere Dinge halten wir für erreichbar. Wir sind an Wunder so gewöhnt worden,

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_034.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)