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Ganzes, ein Organismus, dessen Glieder in ununterbrochener Wechselwirkung standen. „Nach der Erde hin strahlen von allen Enden des Himmels die schöpferischen Kräfte und bestimmen das Irdische.“ (Roger Baco.)

„Isst Jemand ein Stück Brod, sagt Paracelsus, geniesst er nicht in demselben Himmel und Erde und alle Gestirne, in so fern der Himmel durch seinen befruchtenden Regen, die Erde durch das Feld und die Sonne durch ihre leuchtenden und erwärmenden Strahlen an der Hervorbringung desselben mitgewirkt haben und das Ganze im Einzelnen gegenwärtig ist.“

Was auf der Erde geschah, stand am Himmel in Sternenschrift, das am Himmel Geschriebene musste auf der Erde geschehen, Mars oder Venus, oder ein anderer Planet regierten von der Geburt an die Thaten und Erlebnisse der einzelnen Menschen; die in ihrer Erscheinung regellosen Kometen galten als drohende Schriftzeichen der Bedrängniss und Noth ganzer Völkerschaften.

Die Erkenntniss und Betrachtung der Natur und ihrer Kräfte umfasste die Wissenschaft der Magie; mit der Heilkunst verbunden galt sie für den Inbegriff geheimer Weisheit. In den Erscheinungen des organischen Lebens, in grossartigen Naturwirkungen, im Donner und Blitz, im Sturm und Hagel erkannte man das Walten unsichtbarer Geister.

Was ein Denker sich durch Beobachtung erworben hatte, war ein Besitz, dessen Quelle der Menge nicht erkennbar war, er war ein Zeichen des Verkehrs mit übernatürlichen Wesen, sein Wissen galt als Macht, mit ihm beherrschte er die Geister. „Die Dämonen, sagt Cäsalpinus, erkennen durch den innern Sinn, ohne eines Körpers zu bedürfen, aber ohne natürliche Mittel können sie auf Menschen und Thiere keinen Einfluss äussern. – Die von der argen Art erregen die Behexungen und allerlei Unfälle.“ Vier Jahrhunderte lang brachte die Jurisprudenz der Idee des Bestehens von Bündnissen der Menschen mit dem bösen Geiste Tausende von Menschenopfern; man war überzeugt von der Existenz von Verträgen der seltsamsten Art, in so fern keine der Parteien irgend einen Nutzen daraus zog, denn die Unglücklichen, welche ihre Seele dem Teufel verschrieben hatten, lebten grösstentheils im Elend und tiefer Armuth und tauschten dafür einmal weltliche Freuden ein, und ihr Antheil an himmlischer Seligkeit, welchen der Teufel erwarb, war für ihn ein werthloser Besitz. (Carriere.)

Mit diesem Zustande der Entwickelung des menschlichen Geistes verglichen, war die Alchemie in Beziehung auf Naturerkenntniss andern Naturwissenschaften voraus; die Chemie stand damals und bis zum 15. Jahrhundert auf derselben Stufe, sie war in ihrer Ausbildung nicht weiter zurück wie die Astronomie.

Die Idee des Steines der Weisen, als eines Mittels zur Verwandlung der unedlen Metalle in Gold, wurde vorzüglich durch die Araber von Aegypten aus verbreitet. Durch die Eroberung von Aegypten gelangten die Araber in den Besitz von naturwissenschaftlichen Kenntnissen, ursprünglich vielleicht der Erwerb einer eifersüchtigen Priesterkaste, welche als Mysterien in den Tempeln gelehrt, nur den Eingeweihten zugänglich waren. Schon Herodot und Plato hatten in diesem Lande Unterricht und Belehrung gefunden. Neunhundert Jahre vor der Eroberung war bereits in der alexandrinischen Akademie ein Mittelpunkt wissenschaftlicher Thätigkeit

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_026.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)