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Dritter Brief.


Es ist nicht leicht, sich eine Vorstellung über den Umfang des chemischen Wissens in der gegenwärtigen Zeit zu machen, ohne den Blick rückwärts auf vergangene Jahrhunderte zu lenken. Die Geschichte einer Wissenschaft ist eine Seite in der Geschichte des menschlichen Geistes; in Beziehung auf ihre Entstehung und Entwickelung giebt es keine, welche merkwürdiger und lehrreicher wäre, als die Geschichte der Chemie. Der verbreitete Glaube an das jugendliche Alter der Chemie ist ein Irrthum, welcher zufälligen Umständen seine Entstehung verdankt; sie gehört zu den ältesten Wissenschaften.

Derselbe Geist, welcher zu Ende des vorigen Jahrhunderts in einem hochcivilisirten Volke das wahnsinnige Bestreben erweckte, die Denkmale seines Ruhmes und seiner Geschichte zu vernichten, der Göttin der Vernunft Altäre zu erbauen und einen neuen Kalender einzuführen, gab Veranlassung zu dem seltsamen Feste, in welchem Madame Lavoisier in dem Gewande einer Priesterin das phlogistische System auf einem Altar den Flammen übergab, während eine feierliche Musik ein Requiem dazu spielte. Damals vereinigten sich die französischen Chemiker zu einer Aenderung aller bis dahin gebräuchlichen Namen und Bezeichnungsweisen von chemischen Vorgängen und chemischen Verbindungen, es wurde eine neue Nomenclatur eingeführt, welche im Gefolge eines in sich vollendeten neuen Systems sich in allen Ländern die Aufnahme erzwang.

Daher denn die scheinbare grosse Kluft zwischen der gegenwärtigen und früheren Chemie.

Der Ursprung einer jeden wichtigen Entdeckung, einer jeden gesonderten Beobachtung, welche bis zu Lavoisier’s Zeit in irgend einem andern Theil Europa’s gemacht worden war, war verwischt, die neuen Namen und geänderten Vorstellungen zerrissen allen Zusammenhang mit der Vergangenheit, unser gegenwärtiger Besitz scheint Vielen nur das Erbe der damaligen französischen Schule zu sein und die Geschichte nicht über diese hinaus zu reichen. Dies eben ist der Irrthum.

Wie es kein Ergebniss giebt in der Geschichte der Völker, dem nicht Zustände oder Ereignisse, deren Folge es ist, vorangegangen sind, ganz so verhält es sich mit dem Fortschritt in den Naturwissenschaften. Wie eine Erscheinung in der belebten oder unbelebten Natur die Bedingungen voraussetzt, durch welche sie entsteht, so wird der Fortschritt in den Naturwissenschaften angebahnt durch vorangegangene Erwerbung von Wahrheiten, welche Ausdrücke für Thatsachen, oder der gegenseitigen Abhängigkeit von Thatsachen sind. Ein neues System, eine neue Theorie ist immer die Folge von mehr oder weniger umfassenden, der herrschenden Lehre widersprechenden Beobachtungen; zu Lavoisier’s Zeit waren alle Körper, alle Erscheinungen, mit deren Studium er sich beschäftigt hat, bekannt; er hat keinen neuen Körper, keine neue Naturerscheinung entdeckt, alle durch ihn festgestellten waren die nothwendigen Folgen von Arbeiten, die den seinigen vorangegangen waren; sein unsterbliches Verdienst war es, den Körper der Wissenschaft mit einem neuen Sinn begabt

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_024.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)