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Der Beobachter einer Uhr sieht an der Uhr nicht nur das hin- und herschwingende Pendel und das Zifferblatt und die Zeiger, die sich bewegen, dies kann ein Kind sehen, sondern er sieht auch die Theile der Uhr und in welchem Zusammenhang das angehängte Gewicht mit dem Räderwerk und das Pendel mit den sich bewegenden Zeigern steht.

Da die Sinn- und Nervenapparate die Werkzeuge der Geistesoperationen des Beobachters sind, durch welche die Eindrücke, auf die er seine Schlüsse und Folgerungen stützt, empfangen und fortgepflanzt werden, so liegt es in der Natur der Sache, dass Personen, deren Nervensystem sich nicht in vollkommen gesundem Zustande befindet, sich zum Beobachten durchaus nicht eignen, und Sie verstehen hieraus, warum die neue Odwissenschaft keinen Eingang in das Gebiet der Naturforschung gefunden hat. Kein Verständiger kann glauben, dass durch eine so falsche Methode, durch Gesichts- und Gefühlserscheinungen, welche in nervenschwachen, kranken Personen hervorgerufen werden, die Existenz einer neuen Naturkraft begründet werden könne.

Wenn der Beobachter den Grund einer Erscheinung ermittelt hat und er im Stande ist, ihre Bedingungen zu vereinigen, so beweist er, indem er versucht die Erscheinungen nach seinem Willen hervorzubringen, die Richtigkeit seiner Beobachtungen durch den Versuch, das Experiment. Eine Reihe von Versuchen machen, heisst oft einen Gedanken in seine einzelnen Theile zerlegen und denselben durch eine sinnliche Erscheinung prüfen. Der Naturforscher macht Versuche, um die Wahrheit seiner Auffassung zu beweisen, er macht Versuche, um eine Erscheinung in allen ihren verschiedenen Theilen zu zeigen. Wenn er für eine Reihe von Erscheinungen darzuthun vermag, dass sie alle Wirkungen derselben Ursache sind, so gelangt er zu einem einfachen Ausdruck derselben, welcher in diesem Fall ein Naturgesetz heisst. Wir sprechen von einer einfachen Eigenschaft als einem Naturgesetze, wenn diese zur Erklärung einer oder mehrerer Naturerscheinungen dient.

Wir führen z. B. das Steigen des Quecksilbers in der Torricelli’schen Röhre, und das Erheben eines Luftballons auf das Gesetz zurück, dass die Luft Gewicht besitzt. Eine einzelne Naturerscheinung wird aber unserer Erfahrung gemäss niemals durch eine einzige Ursache zum Vorschein gebracht, sondern sie beruht immer auf dem Zusammenwirken mehrerer Naturgesetze. Die Darlegung des Zusammenhangs dieser Naturgesetze heisst die Theorie der Erscheinung. Die Theorie des Barometers umfasst drei Naturgesetze: das Gesetz, dass die Luft schwer ist, das Gesetz, dass der Druck auf Flüssigkeiten gleichmässig nach allen Richtungen sich fortpflanzt, das Gesetz, dass der in einer Richtung wirkende Druck, wenn er nicht durch einen gleichen Gegendruck aufgehoben wird, eine Bewegung hervorbringt, die so lange fortdauert, bis das Gleichgewicht hergestellt ist. Auf dem letzteren Gesetz, so wie auf dem Gesetz, dass die Luft schwer ist, und auf einem vierten Gesetz, dass ein in einer Flüssigkeit schwimmender Körper an seinem Gewichte um eben so viel verliert, als die Flüssigkeit wiegt, die er aus dem Raume verdrängt, beruht die Theorie des Luftballons.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_019.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)