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Indem man die unzähligen Wirkungen, die man wahrnahm, eben so vielen verborgenen Qualitäten oder Dingen zuschrieb, war der Erforschung der eigentlichen Ursache ein Ziel gesetzt; man wusste ja alles, worauf es ankam.

Die Rolle der Erklärung spielte ein Wort, die Rolle der Wahrheit nahm der blinde Glaube, ein gedankenloses Nachbeten ganz unbewiesener Ansichten ein. Es nöthigen uns zwar Verstand und Erfahrung an die Wahrheit einer Menge Ereignisse zu glauben, die wir nicht erlebt haben, an eine Menge Thatsachen, die von Andern aufgefunden und niemals von uns beobachtet worden sind. Wir glauben in der That an alle Vorgänge, Ereignisse und Thatsachen, welche von glaubwürdigen Personen behauptet werden, wenn sie bekannten Naturgesetzen nicht widersprechen oder wenn ihre Wirkungen in irgend einer Weise oder zu irgend einer Zeit von uns oder von andern glaubwürdigen Personen bemerkbar geworden sind. Wir glauben an die Existenz von Julius Cäsar, den wir nicht gesehen haben, nicht blos deshalb, weil ihn seine Zeitgenossen gesehen haben, sondern weil seine Existenz durch Ereignisse festgestellt ist, deren Wirkungen in der Geschichte der Menschheit noch Jahrhunderte nach ihm wahrgenommen wurden. Wir glauben aber nicht an Gespenster, obwohl tausende von Menschen Gespenster gesehen haben, weil wir aus der Lehre vom Lichte wissen, dass selbst die körperliche Materie von einem gewissen Grade von Feinheit, wie die atmosphärische Luft z. B. nicht mehr gesehen werden kann, und weil einem körperlosen Wesen die Eigenschaft Licht zu reflectiren, die Hauptbedingung um gesehen zu werden, nicht mehr zukömmt. Der Glaube, welcher Gespenster sieht, dieser Glaube gehört der Wissenschaft nicht an; er ist des Wissens schlimmster Feind, denn das Wissen ist dieses Glaubens Tod.

Die Erklärungen der heutigen Naturforscher sind von denen der früheren Zeit unendlich verschieden; die jetzige Naturforschung legt auf die scharfsinnigsten Erfindungen des Geistes kein Gewicht; sie betrachtet als ihre Aufgabe eine Erkenntniss, welche nur erworben wird durch unermüdliche Arbeit und Anstrengung.

Wenn der Naturforscher unserer Zeit eine Naturerscheinung, das Brennen eines Lichtes, das Wachsen einer Pflanze, das Gefrieren des Wassers, das Bleichen einer Farbe, das Rosten des Eisens erklären will, so stellt er die Frage nicht an sich selbst, an seinen Geist, sondern an die Erscheinung, an den Zustand selbst.

Der heutige Naturforscher, wenn er eine Erscheinung erklären will, fragt, was geht dieser Erscheinung voraus, was ist es, was darauf folgt? Was vorausgeht, nennt er Ursache oder Bedingung, was ihr folgt, nennt er Wirkung oder Effect.

Dem Wachsen einer Pflanze geht voraus ein Keim, ein Samenkorn, es setzt voraus einen Boden; ohne die Atmosphäre, ohne Feuchtigkeit wächst die Pflanze nicht.

Boden, Atmosphäre sind nicht Bedingungen an sich; es giebt Kalkboden, Thonboden, Sandboden, ganz verschieden von einander in ihrer Beschaffenheit und Mischung. Das Wort Boden ist, wie Sie sehen, ein Collectivname für eine ganze Anzahl von Bedingungen; der fruchtbare Boden enthält sie in dem für die Pflanzenernährung richtigen

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_016.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)