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Blausäure und Bittermandelöl in den bittern Mandeln, von Senföl und Sinapin im Senf, von Zucker im keimenden Samen, Resultate chemischer Zersetzungen sind; wir sehen, dass ein todter Kalbsmagen mit Hülfe von etwas Salzsäure auf Fleisch und hartgekochtes Eiweiss gerade so wirkt, wie ein lebendiger, dass beide löslich, d. h. verdaut werden. Alles dies berechtigt zu dem Schluss, dass wir auf dem Wege der Naturforschung zu einer klaren Einsicht über die Veränderungen, welche die Nahrungsmittel im Organismus erleiden, über die Wirkung der Arzneimittel gelangen werden.

Ohne ein genaues Studium der Chemie und Physik werden die Physiologie und Medicin in ihren wichtigsten Aufgaben, in der Erforschung der Gesetze des Lebens und der Hebung und Beseitigung von anomalen Zuständen im Organismus kein Licht erhalten. Ohne Kenntniss der chemischen Kräfte kann die Natur der Lebenskraft nicht ergründet werden; der wissenschaftliche Arzt wird dann erst von der Chemie Hülfe erwarten können, wenn er im Stande sein wird, dem Chemiker regelrechte Fragen zu stellen.

Die Industrie hat aus der Kenntniss der Chemie unübersehbare Vortheile gezogen; die Mineralogie ist seit der Zeit, wo sie auf die Zusammensetzung der Mineralien und das Verhalten ihrer Bestandtheile Rücksicht nahm, zu einer neuen Wissenschaft geworden; es ist unmöglich, Fortschritte in der Geologie zu erwarten, wenn nicht mehr wie bisher, und zwar in gleicher Weise wie in der Mineralogie, die chemische Beschaffenheit und Zusammensetzung der Felsarten in Rechnung genommen wird. Die Chemie ist die Grundlage der Agricultur; ohne die Bestandtheile des Bodens, die Nahrungsmittel der Gewächse zu kennen, kann an eine wissenschaftliche Begründung derselben nie gedacht werden.

Ohne Kenntniss der Chemie muss der Staatsmann dem eigentlichen Leben im Staate, seiner organischen Entwickelung und Vervollkommnung fremd bleiben, ohne sie kann sein Blick nicht geschärft, sein Geist nicht geweckt werden für das, was dem Lande und der menschlichen Gesellschaft wahrhaft nützlich oder schädlich ist; die höchsten materiellen Interessen, die gesteigerte und vortheilhaftere Hervorbringung von Nahrung für Menschen und Thiere, die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit, sie sind auf’s engste geknüpft an die Verbreitung und das Studium der Naturwissenschaften, und insbesondere an das der Chemie; ohne die Kenntniss der Naturgesetze und der Naturerscheinungen scheitert der menschliche Geist in dem Versuche, sich eine Vorstellung über die Grösse und unergründliche Weisheit des Schöpfers zu schaffen; denn Alles, was die reichste Phantasie, die höchste Geistesbildung an Bildern nur zu ersinnen vermag, erscheint, gegen die Wirklichkeit gehalten, wie eine bunte, schillernde, inhaltlose Seifenblase.

In der Begründung von Schulen, in denen die Naturwissenschaften als Gegenstände des Unterrichts die erste Stelle einnehmen, hat sich das Bedürfniss der neueren Zeit schon praktisch bethätigt; es wird sich aus ihnen eine kräftigere Generation entwickeln, kräftiger am Verstand und Geiste, fähig und empfänglich für Alles, was wahrhaft gross und fruchtbringend ist. Durch sie werden die Hülfsmittel der Staaten zunehmen,

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_014.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)