Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 007.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Eine Mineralquelle in Savoyen heilt Kröpfe; ich stelle an sie gewisse Fragen, und alle Buchstaben zusammengestellt, sagt sie mir, dass sie Jod enthält.

Ein Mann ist nach dem Genusse einer Speise mit allen Zeichen der Vergiftung gestorben; die Sprache der Erscheinungen, welche dem Chemiker geläufig ist, sagt ihm, der Mann sei an Arsenik oder an Sublimat gestorben.

Der Chemiker bringt ein Mineral durch seine Fragen zum Sprechen; es antwortet ihm, dass es Schwefel, Eisen, Chrom, Kieselerde, Thonerde oder irgend eins der Worte der chemischen Sprache der Erscheinungen, in gewisser Weise geordnet, enthält. Dies ist die chemische Analyse.

Die Sprache der Erscheinungen leitet den Chemiker zu Combinationen, aus denen unzählige nützliche Anwendungen sich ergeben: sie führen ihn zu Verbesserungen in Fabriken und Gewerben in der Bereitung von Arzneien, in der Metallurgie. Er hat den Ultramarin entziffert, es handelt sich jetzt darum, das Wort durch eine Erscheinung wiederzugeben, den Ultramarin mit allen seinen Eigenschaften wieder darzustellen.

Die Bekanntschaft mit der Zusammensetzung der Körper befähigt den Chemiker Fragen zu lösen, die man noch vor wenig Jahren für unlösbar gehalten hat.

Ein Feld, auf dem wir eine Anzahl von Jahren hinter einander die nämliche Pflanze cultiviren, wird in drei, ein anderes in sieben, zehn, hundert Jahren unfruchtbar für diese Pflanze; das eine Feld trägt Weizen, keine Bohnen, es trägt Gerste, aber keinen Tabak, ein drittes giebt reichliche Ernten von Rüben, aber keinen Klee!

Die Ermittelung der Zusammensetzung des Bodens und der Asche der Pflanze lässt Sie den Grund erkennen, warum der Acker bei der Cultur einer und derselben Pflanze, wenn der Boden keinen Dünger empfängt, seine Fruchtbarkeit für dieselbe allmählich verliert, warum eine Pflanze darauf gedeiht und die andere darauf fehlschlägt. Die Chemie lehrt den Grund der Wirkung des Düngers und die Mittel kennen, durch welche die Fruchtbarkeit des Feldes wieder hergestellt wird. Dies ist die angewandte Chemie.

Die Lösung der Frage, in welchem Verhältniss die organische Form abhängig ist von ihren Bestandtheilen, ist die nächste Aufgabe der Chemie in der Physiologie; sie soll zeigen, welche Veränderungen die Speisen erleiden, wenn sie zu Blut werden, welchen Aenderungen die Blutbestandtheile unterliegen, wenn sie zu Bestandtheilen der Organe werden.

Die Ernährungsfähigkeit einer Speise, die Wirkung eines Arzneimittels, die der Gifte, alle diese Eigenschaften sind an etwas Materielles, an gewisse Elemente gebunden, sie sind die Träger dieser Thätigkeiten. Die vitalen Eigenschaften eines Organes, einer jeden thierischen Flüssigkeit sind abhängig von ihrer Mischung, d. h. von ihrer Zusammensetzung; eine jede Krankheitsursache hat eine Entmischung, eine Aenderung in der Zusammensetzung zur Folge. Die Anwendung von Arzneien bezweckt die Wiederherstellung der ursprünglichen Zusammensetzung, ihre Wirkung hängt ab von ihrer Zusammensetzung. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Chemie, auszumitteln, wie und auf welche Weise die arzneilichen, die giftigen Eigenschaften einer Materie abhängig sind von der

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_007.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)