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Der Name eines jeden dieser Körper besitzt für den Chemiker seine besondere Bedeutung; die Namen Schwefel, Jod, Eisen erwecken in ihm nicht nur gewisse Merkmale der Aehnlichkeit oder Verschiedenheit in der äussern Beschaffenheit, in der Farbe, in der Gestalt, Härte u. s. w., sondern eine Reihe von verborgenen Eigenthümlichkeiten, welche erst in Berührung mit andern Körpern zum Vorschein kommen.

Die Körper besitzen wie die Menschen gewisse äussere und eine ganze Anzahl verborgene Eigenthümlichkeiten. An der äusseren körperlichen Beschaffenheit erkennen wir die Individuen und unterscheiden sie von einander, aber durch die Sinne oder an körperlichen Merkmalen ist Niemand im Stande, die verborgenen Eigenschaften eines Individuums, ob es sanft oder heftig, freigebig oder habgierig ist, zu errathen oder zu erkennen, weil diese erst im Verkehr mit andern Menschen zum Vorschein kommen. So ist z. B. der Name Luft, atmosphärische Luft, für den Chemiker ein Inbegriff von Eigenschaften; kein sterbliches Auge hat je ein Lufttheilchen gesehen: denn das Sehen setzt gewisse Wirkungen auf das Auge voraus, welche den Lufttheilchen abgehen; aber sie besitzen andere Eigenschaften, welche die Chemie zur Wahrnehmung bringt, und durch diese andern Eigenschaften erkennt der Chemiker nicht blos die Anwesenheit von Lufttheilchen, wo kein anderer Mensch sie erkennen würde: er zeigt auch, dass diese unsichtbare und unfühlbare Materie aus mehreren gleich unsichtbaren Materien zusammengesetzt ist; es gelingt ihm durch die genaue Bekanntschaft mit ihren Eigenthümlichkeiten, sie von einander zu trennen, zu wägen und ihre Anwesenheit jedem andern Auge erkennbar zu machen; er zeigt Ihnen, dass die Luftart, die in unsern Strassenlaternen brennt, aus fünf oder sechs ganz verschiedenen Luftarten besteht; er zeigt Ihnen in einem Bestandtheil der Atmosphäre, welcher zum Athemprocesse verwendet wird, eine der wichtigsten Bedingungen des thierischen, und in einem Producte des Respirationsprocesses die nächste Bedingung des Pflanzenlebens; er zeigt Ihnen den innigen Zusammenhang der sichtbaren mit der unsichtbaren materiellen Welt, von deren Dasein unsere Vorältern keine Ahnung hatten, und alles dies dadurch, dass er die Eigenthümlichkeiten dieser Stoffe kennen gelernt hat durch sichtbare oder durch sinnlich wahrnehmbare Erscheinungen, die erst in Gegenwart oder beim Zusammenbringen mit andern Stoffen wahrnehmbar werden, deutlicher wie der Ton einer Saite, die Sie anschlagen, und ebenso verständlich wie die schwarzen Linien und Schriftzeichen, womit Sie einem Freunde auf die grössten Entfernungen hin Ihre unsichtbaren Gedanken vor Augen bringen.

Die Körper sind verschieden in ihrer Qualität; was ihre Eigenschaften uns sagen, ändert sich, je nachdem sie geordnet sind; wie in jeder andern, haben wir in der eigenthümlichen Sprache, mit der die Körper zu uns reden, Artikel, Fälle, alle Beugungen der Haupt- und Zeitwörter, wir haben eine Menge Synonymen. Dieselben Quantitäten der nämlichen Elemente bringen je nach ihrer Stellung ein Gift, ein Arzneimittel, ein Nahrungsmittel, einen flüchtigen oder einen feuerbeständigen Körper hervor.

Wir kennen die Bedeutung ihrer Eigenschaften, der Worte nämlich, in denen die Natur zu uns spricht, und benutzen das Alphabet, um zu lesen.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_006.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)