Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 002.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und erheben sich seine Fähigkeiten nach allen andern Richtungen hin; die Erwerbung einer neuen Wahrheit ist ein dem Menschen zugewachsener neuer Sinn, der ihn jetzt befähigt, eine Menge von Erscheinungen wahrzunehmen und zu erkennen, die einem andern unsichtbar und verborgen bleiben, wie sie es früher ihm selbst waren.

Die Chemie führt den Menschen ein in das Reich der stillen Kräfte, durch deren Macht alles Entstehen und Vergehen auf der Erde bedingt ist, auf deren Wirkung die Hervorbringung der wichtigsten Bedürfnisse des Lebens und des Staatskörpers beruht; als Theil der Wissenschaft der Naturforschung ist sie auf’s engste verwandt mit der Physik und diese letztere steht in genauer Verbindung mit Astronomie und Mathematik. Die Grundlage eines jeden Zweiges der Naturwissenschaft ist die einfache Naturbeobachtung; nur ganz allmählich haben sich die Erfahrungen zur Wissenschaft gestaltet.

Der Ortswechsel der Gestirne, der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten haben zur Astronomie geführt.

Mit der Astronomie entstand die Physik, bei einem gewissen Grad ihrer Ausbildung zeugte sie die wissenschaftliche Chemie, aus der organischen Chemie werden sich die Gesetze des Lebens, es wird sich die Physiologie entwickeln.

Die Quelle aller Wissenschaft ist die Erfahrung; man hat die Dauer des Jahres bestimmt, den Wechsel der Jahreszeiten erklärt, Mondfinsternisse berechnet, ohne die Gesetze der Schwere zu kennen; man hat Mühlen gebaut und Pumpen gehabt und den Druck der Luft nicht gekannt; man hat Glas und Porzellan gemacht, man hat gefärbt und Metalle geschieden, Alles durch blosse Experimentirkunst, ohne also durch richtige wissenschaftliche Grundsätze geleitet zu sein. So ist die Geometrie in ihrer Grundlage eine Erfahrungswissenschaft, die meisten Lehrsätze derselben waren durch Erfahrung gefunden, ehe ihre Wahrheit durch Vernunftschlüsse bewiesen wurde. Dass das Quadrat der Hypotenuse gleich sei dem Quadrat der beiden Katheten, war eine Erfahrung, eine Entdeckung; würde sonst der Entdecker, als er den Beweis fand, eine Hekatombe geopfert haben?

Wie ganz anders stellen sich jetzt aber die Entdeckungen des Naturforschers dar, seitdem der geistige Hauch einer wahren Philosophie ihn dahin geführt hat, die Erscheinungen zu studiren, um zu Schlüssen auf ihre Ursachen und Gesetze zu gelangen.

Von einem einzelnen erhabenen Genius, von Newton, ist mehr Licht ausgegangen, als ein Jahrtausend vor ihm hervorzubringen vermochte. Die richtige Ansicht von der Bewegung der Himmelskörper, des Falls der Körper, ist die Mutter von zahllosen andern Entdeckungen geworden; die Schifffahrt, der Handel, die Industrie, jeder einzelne Mensch zieht, so lange Menschen existiren, geistige und materielle Vortheile aus seinen Entdeckungen.

Ohne die Geschichte der Phvsik zu Rathe zu ziehen, ist es unmöglich, sich eine Vorstellung von dem Einfluss zu machen, den die Naturforschung auf die Cultur des Geistes ausgeübt hat. In unseren Schulen prägen sich den Kindern Wahrheiten ein, deren Eroberung unermessliche Arbeiten, unsägliche Anstrengungen gekostet hat. Sie lächeln, wenn wir ihnen

Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_002.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)