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Der unmittelbare Zusammenhang dieser Sage mit der unsern ist klar. Aber ich muss hier weitergehn. Dass gerade das Wachsen eines Baums als Zeichen der Unschuld des Hingerichteten dient, ist doch auffällig. Man könnte nun meinen: die Sage hatte sich einmal an jene Ahornhäuser bei Neustadt geknüpft, warum, das wissen wir nicht; und doch war die größte Merkwürdigkeit jener mächtige Ahorn, der als ein Merkzeichen der Gegend galt, und zudem sind Ahornbäume dort so häufig nicht: so lag es wol nahe, gerade auf diesen Baum zu verfallen. Doch diese Begründung wäre falsch, denn gerade dieser Zug ist diesem Teil der Sage eigentümlich und gerade er war Ursache zur Verknüpfung der Sage mit den Ahornhäusern. Dass der Zug echt und alt ist und nicht etwa zum Zweck unserer Sage erfunden, zeigen gleichlaufende Erzählungen in Menge. Wollte ich hier Beweise führen, so müsste ich weit ausholen; doch das soll bei anderer Gelegenheit geschehn: bei einer im Entwurf seit Jahren fertigen Beleuchtung und Zergliederung der Tannhäusersage. Mit dieser Andeutung ist eigentlich Alles gesagt; ich rechne nämlich das wunderbare Aufwachsen des Ahornbaums unter eine Sagenerscheinung, die ich nach ihrer kennzeichnendsten Gestalt – eben in der Tannhäusersage – Stabwunder nenne. Grundzug ist: die göttliche Macht verwendet zum Beweis der Unschuld eines von ihr Erwählten, zum Zeichen der Erwählung das wunderbare Aufwachsen, Grünen, Blühen einer Pflanze. Das Leben der Pflanze ist für das Auge eines Naturmenschen mehr als irgend eine andere irdische Erscheinung in die Hand Gottes gegeben. Ihr geheimnisvolles Sprießen aus dunkler Erdenkammer, ihre für menschliche Sinne unmerkliche aber doch so große äußerliche Wachstumsveränderung wird stets auf überirdische Einwirkung zurückgeführt. Dies mag auch zum Entstehen der mannigfachen Sagen von Baumgeistern, zur Heiligung der Bäume überhaupt beigetragen haben. Pflanzen, besonders Bäume, sind dem Naturkinde aber befreundete, weil zum Ansehn schöne, zum Gebrauch nützliche Erscheinungen, daher gilt als ihr Schützer und Pfleger stets auch die gute göttliche Macht. So viel Sagen auch den Zug des Stabwunders überliefern – ich könnte eine beträchtliche Anzahl vorführen – immer sehn wir nur Gott selbst das Stabwunder vollbringen. So auch in unserer Sage von den Ahornhäusern,

Empfohlene Zitierweise:
Fridrich Pfaff (Hrsg.): Alemannia XXII. Hanstein, Bonn 1894, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Alemannia_XXII_080.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)