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ÜBERLINGER SAGEN[1]

13 DAS KIND IM LÖWENRACHEN

Zu Überlingen stand noch vor wenigen Jaren im Turmgäßchen, in der Nähe des Barfüßertors, ein altertuemliches baufälliges Haus, über dessen Tor ein aus Sandstein gemeißelter Löwenkopf mit einem Säugling im Rachen zu sehen war. Jezt ist das Haus umgebaut, modernisiert, der Löwenkopf mit dem Kinde ward weggenommen, befindet sich nun im „Kulturhistorischen Kabinet.“ Über den Ursprung dises Steindenkmals wird Folgendes erzält:

Vor alter Zeit lebte in disem Hause ein Frau, welche ein einziges Kind hatte, das sie zärtlich liebte. Eines Morgens, als sie gerade mit dem Kämmen irer Hare beschäftigt war, kam zur offen stehenden Türe ein gewaltiger Löwe herein, gieng auf das Kind in der Wige los, erfaßte es mit seinen Zänen, trug es eilends fort. Die Mutter, anfangs starr vor Schrecken, da sie das Entsezliche sah, raffte sich auf, stürzte mit aufgelösten Haren dem Löwen nach, welcher ob der plözlichen Erscheinung stuzte, entriß demselben das Kind und trug es unversert in ir Haus zurück. Zum bleibenden Andenken an dise wunderbare Errettung ires Kindes ließ die Frau den Löwenkopf über dem Haustor anbringen.

Mündlich


14 DER OCHSENSPRUNG AM ST. KATHARINAFELSEN

Eine halbe Stunde von Überlingen erhebt sich in westlicher Richtung das Molassegebirg fast senkrecht und turmhoch aus dem See und zieht landeinwärts als breite Hochebene mit fruchtbaren Feldern und saftigen Wisengeländen. Die höchste Felswand, an deren Fuße eine der hl. Katharina geweihte Kapelle angebracht war, heißt der St. Katharinafelsen.

Auf einem Acker genannter Hochebene, gerade über dem St. Katharinafelsen, pflügte dereinst ein Landmann mit einem Par Ochsen, die von seinem Töchterchen gefürt wurden. Der Tag war heiß, die Tiere unruhig, von Hize und Mücken geplagt. Da fiel plözlich ein Schwarm Bremsen die Ochsen derart an, daß sie scheu wurden und mit dem Pfluge davonrannten, das Mädchen mit sich schleppend, das den Strang nicht losgelaßen. Vergebens suchte der Bauer die Tiere zurückzuhalten, er holte sie nicht mer ein, sie waren schon am Abhang angekommen; mit Schaudern sah er, daß das rasende


  1. Alem. XVI 248 ff. XVII 263 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Anton Birlinger (Hrsg.): Alemannia XVIII. Hanstein, Bonn 1890, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Alemannia_XVIII_183.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)