wird, „daß die deutsche Volkskunst sich um dieses Stück selten gekümmert hat“.[1] (!)
Wenn diese Gesichtspunkte so wichtig sind, daß sie selbst wissenschaftlichen Grundsätzen gegenüber durchschlagen, dann haben wir schließlich ein Recht zu fragen, ob nicht diese Gesichtspunkte von vornherein die entscheidenden sind. Grundmann meint, daß man die evangelischen Erzählungen von den Deutungen befreien müsse, die sie von den einzelnen Evangelisten bekommen hätten. Auf diese Weise soll das gereinigte wirkliche Bild Jesu von Nazareth hergestellt werden. In Wirklichkeit tritt aber nur an Stelle der Deutung der Evangelisten, die immerhin die „Deutung“ der christlichen Gemeinde ist, die Deutung der Deutschen Christen, die Einpressung der Evangelien in einen zuvor festgelegten Rahmen.[2] Und es hat etwas ungeheuer Erschütterndes an sich, daß man die frohe Botschaft, die uns die Quelle alles Heils ist, auf einmal zum Material für eine völlig anders geartete Lebenswelt werden sieht. Es sind alles alte Bekannte, es sind die Geschichten, die man alle von Kindesbeinen an kennt, aber man kennt sie nicht recht wieder, sie sind in ein fremdes Gewand gekleidet, und man fühlt instinktiv, daß ihnen mit dieser Maske etwas angetan worden ist. Mir war beim Lesen zumute, als ob ich die wohl vertrauten Quadern eines Domes eingerissen und als Bausteine zu einem ganz neuen Gebäude verwendet sähe.
Die Deutung des Evangeliums, die uns hier entgegentritt, ist die Deutung einer ganz bestimmten Welt- und Religionsanschauung, die nicht von der Bibel als Wort Gottes herkommt, sondern in ihr den Ausdruck einer an und für sich vergangenen Weltanschauung sieht, aus der nur so viel übernommen werden kann, wie sich mit der eigenen Anschauung verträgt. Die Herausgeber des Volkstestaments sehen ganz offenkundig vor allem ihre Aufgabe darin, den antisemitischen Einwänden gegen die Bibel und insbesondere gegen die Evangelien zu begegnen. Sie sehen sie nicht etwa darin, daß sie die Verschiedenheit der Judenfrage von heute und einst dartun, auch nicht darin, daß sie am Beispiel des jüdischen Volkes zeigen, was es bedeutet, sich gegen Gottes Willen zu entscheiden und dadurch das zugesagte Heil zu verlieren. Israel hat nicht durch seine Absage an Jesus Christus das Heil verloren, es hat überhaupt nie das Heil gehabt. Ja noch mehr, es gibt überhaupt keine Heilsgeschichte,
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Karl Fischer: Das Volkstestament der Deutschen Christen. Bekennende Evangelisch-luth. Kirche Sachsens, Dresden 1940, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Volkstestament_der_Deutschen_Christen.pdf/8&oldid=- (Version vom 20.11.2023)