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und fielen in die offenen Corollen[1]
und sanken langsam auf den Blütengrund.

Und sie empfingen ihn, den Makellosen,
in ihrem Leib, der ihre Seele war.

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Und ihre Augen schlossen sich wie Rosen,

und voller Liebesnächte war ihr Haar.

Und ihn empfing das Große und Geringe.
Zu vielen Tieren kamen Cherubim,
zu sagen, daß ihr Weibchen Früchte bringe, –

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und waren wunderschöne Schmetterlinge:

denn ihn erkannten alle Dinge
und hatten Fruchtbarkeit aus ihm.
Und als er starb, so leicht wie ohne Namen,
da war er ausgeteilt: sein Samen rann

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in Bächen, in den Bäumen sang sein Samen

und sah ihn ruhig aus den Blumen an.
Er lag und sang. Und als die Schwestern kamen,
da weinten sie um ihren lieben Mann.


O wo ist er, der Klare, hingeklungen?
Was fühlen ihn, den Jubelnden und Jungen,
die Armen, welche harren, nicht von fern?

Was steigt er nicht in ihre Dämmerungen –

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     der Armut großer Abendstern.

  1. Als Korolle bezeichnen Fachleute die Mitte der Fuchsienblüte, die umgebenden Blütenblättern bilden das Röckchen.
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Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_102.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)