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O wo ist der, der aus Besitz und Zeit
zu seiner großen Armut so erstarkte,
daß er die Kleider abtat auf dem Markte
und bar einherging vor des Bischofs Kleid.

5
Der Innigste und Liebendste von allen,

der kam und lebte wie ein junges Jahr;
der braune Bruder deiner Nachtigallen,
in dem ein Wundern und ein Wohlgefallen
und ein Entzücken an der Erde war.

10
Denn er war keiner von den immer Müdern,

die freudeloser werden nach und nach,
mit kleinen Blumen wie mit kleinen Brüdern
ging er den Wiesenrand entlang und sprach.
Und sprach von sich und wie er sich verwende,

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so daß es allem eine Freude sei;

und seines hellen Herzens war kein Ende,
und kein Geringes ging daran vorbei.
Er kam aus Licht zu immer tieferm Lichte,
und seine Zelle stand in Heiterkeit.

20
Das Lächeln wuchs auf seinem Angesichte

und hatte seine Kindheit und Geschichte
und wurde reif wie eine Mädchenzeit.

Und wenn er sang, so kehrte selbst das Gestern
und das Vergessene zurück und kam;

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und eine Stille wurde in den Nestern,

und nur die Herzen schrieen in den Schwestern,
die er berührte wie ein Bräutigam.

Dann aber lösten seines Liedes Pollen
sich leise los aus seinem roten Mund

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und trieben träumend zu den Liebevollen
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_101.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)