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Und ihre Hände sind wie die von Frauen,
und irgendeiner Mutterschaft gemäß;
so heiter wie die Vögel, wenn sie bauen, –
im Fassen warm und ruhig im Vertrauen,

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und anzufühlen wie ein Trinkgefäß.


Ihr Mund ist wie der Mund an einer Büste,
der nie erklang und atmete und küßte
und doch aus einem Leben das verging,
das alles, weise eingeformt, empfing,

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und sich nun wölbt, als ob er alles wüßte –

und doch nur Gleichnis ist und Stein und Ding.


Und ihre Stimme kommt von ferneher
und ist vor Sonnenaufgang aufgebrochen
und war in großen Wäldern, geht seit Wochen
und hat im Schlaf mit Daniel gesprochen

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und hat das Meer gesehn und sagt vom Meer.


Und wenn sie schlafen, sind sie wie an alles
zurückgegeben, was sie leise leiht,
und weit verteilt wie Brot in Hungersnöten
an Mitternächte und an Morgenröten

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und sind wie Regen voll des Niederfalles

in eines Dunkels junge Fruchtbarkeit.
Dann bleibt nicht eine Narbe ihres Namens
auf ihrem Leib zurück, der keimbereit
sich bettet wie der Samen jenes Samens,

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aus dem du stammen wirst von Ewigkeit.
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_097.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)