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Und was sind Vögel gegen dich, die frieren,
was ist ein Hund, der tagelang nicht fraß,
und was ist gegen dich das Sichverlieren,
das stille lange Traurigsein von Tieren,

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die man als Eingefangene vergaß?


Und alle Armen in den Nachtasylen,
was sind sie gegen dich und deine Not?
Sie sind nur kleine Steine, keine Mühlen,
aber sie mahlen doch ein wenig Brot.

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Du aber bist der tiefste Mittellose,

der Bettler mit verborgenem Gesicht;
du bist der Armut große Rose,
die ewige Metamorphose
des Goldes in das Sonnenlicht.

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Du bist der leise Heimatlose,

der nicht mehr einging in die Welt:
zu groß und schwer zu jeglichem Bedarfe.
Du heulst im Sturm. Du bist wie eine Harfe,
an welcher jeder Spielende zerschellt.


Du, der du weißt und dessen weites Wissen
aus Armut ist und Armutsüberfluß:
Mach, daß die Armen nicht mehr fortgeschmissen
und eingetreten werden in Verdruß.

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Die andern Menschen sind wie ausgerissen;

sie aber stehn wie eine Blumenart
aus Wurzeln auf und duften wie Melissen,
und ihre Blätter sind gezackt und zart.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_095.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)