Denn sie sind reiner als die reinen Steine
und wie das blinde Tier, das erst beginnt,
und wollen nichts und brauchen nur das eine:
so arm sein dürfen, wie sie wirklich sind.
Denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen ...
Du bist der Arme, du der Mittellose,
du bist der Stein, der keine Stätte hat,
du bist der fortgeworfene Leprose,
der mit der Klapper umgeht vor der Stadt.
und deine Blöße kaum bedeckt der Ruhm;
das Alltagskleidchen eines Waisenkindes
ist herrlicher und wie ein Eigentum.
Du bist so arm wie eines Keimes Kraft
und sich die Lenden preßt, daß sie erwürge
das erste Atmen ihrer Schwangerschaft.
Und du bist arm: so wie der Frühlingsregen,
der selig auf der Städte Dächer fällt,
in einer Zelle, ewig ohne Welt.
Und wie die Kranken, die sich anders legen
und glücklich sind; wie Blumen in Geleisen
so traurig arm im irren Wind der Reisen;
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_094.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)