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er aber lag mit abgehärmtem Haar,
die alte Stirne auf des Fußes Fliesen,
und weinte, – weil aus allen Paradiesen

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nicht eine Stunde seine war.


Nicht wie die Ersten alter Handelshäfen,
die sorgten, wie sie ihre Wirklichkeit
mit Bildern ohnegleichen überträfen
und ihre Bilder wieder mit der Zeit;

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und die in ihres goldnen Mantels Stadt

zusammgefaltet waren wie ein Blatt,
nur leise atmend mit den weißen Schläfen ...

Das waren Reiche, die das Leben zwangen
unendlich weit zu sein und schwer und warm.

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Aber der Reichen Tage sind vergangen,

und keiner wird sie dir zurückverlangen,
nur mach die Armen endlich wieder arm.


Sie sind es nicht. Sie sind nur die Nicht-Reichen,
die ohne Willen sind und ohne Welt;
gezeichnet mit der letzten Ängste Zeichen
und überall entblättert und entstellt.

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Zu ihnen drängt sich aller Staub der Städte,

und aller Unrat hängt sich an sie an.
Sie sind verrufen wie ein Blatternbette,
wie Scherben fortgeworfen, wie Skelette,
wie ein Kalender, dessen Jahr verrann, –

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und doch: wenn deine Erde Nöte hätte:

sie reihte sie an eine Rosenkette
und trüge sie wie einen Talisman.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_093.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)