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die eine schlechte Stimme von sich geben.
Viele sind reich und wollen sich erheben, –

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aber die Reichen sind nicht reich.


Nicht wie die Herren deiner Hirtenvölker,
der klaren, grünen Ebenen Bewölker,
wenn sie mit schummerigem Schafgewimmel
darüber zogen wie ein Morgenhimmel.

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Und wenn sie lagerten und die Befehle

verklungen waren in der neuen Nacht,
dann wars, als sei jetzt eine andre Seele
in ihrem flachen Wanderland erwacht –:
Die dunklen Höhenzüge der Kamele

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umgaben es mit der Gebirge Pracht.


Und der Geruch der Rinderherden lag
dem Zuge nach bis in den zehnten Tag,
war warm und schwer und wich dem Wind nicht aus.
Und wie in einem hellen Hochzeitshaus

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die ganze Nacht die reichen Weine rinnen:

so kam die Milch aus ihren Eselinnen.

Und nicht wie jene Scheichs der Wüstenstämme,
die nächtens auf verwelktem Teppich ruhten,
aber Rubinen ihren Lieblingsstuten

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einsetzen ließen in die Silberkämme.


Und nicht wie jene Fürsten, die des Golds
nicht achteten, das keinen Duft erfand,
und deren stolzes Leben sich verband
mit Ambra, Mandelöl und Sandelholz.

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Nicht wie des Ostens weißer Gossudar,

dem Reiche eines Gottes Recht erwiesen;

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_092.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)