Seite:Das Stundenbuch (Rilke) 087.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und Frauen sind den Wachsenden Vertraute
für Ängste, die sonst niemand nehmen kann.
Um ihretwillen bleibt das Angeschaute

10
wie Ewiges, auch wenn es lang verrann, –

und jeder, welcher bildete und baute,
ward Welt um diese Frucht und fror und taute
und windete ihr zu und schien sie an.
In sie ist eingegangen alle Wärme,

15
der Herzen und der Hirne weißes Glühn –:

Doch deine Engel ziehn wie Vogelschwärme,
und sie erfanden alle Früchte grün.


HERR: Wir sind ärmer denn die armen Tiere,
die ihres Todes enden, wenn auch blind,
weil wir noch alle ungestorben sind.
Den gib uns, der die Wissenschaft gewinnt,

5
das Leben aufzubinden in Spaliere,

um welche zeitiger der Mai beginnt.

Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer,
daß es nicht unser Tod ist; einer der
uns endlich nimmt, nur weil wir keinen reifen;

10
drum geht ein Sturm, uns alle abzustreifen.


Wir stehn in deinem Garten Jahr und Jahr
und sind die Bäume, süßen Tod zu tragen;
aber wir altern in den Erntetagen,
und so wie Frauen, welche du geschlagen,

15
sind wir verschlossen, schlecht und unfruchtbar.


Oder ist meine Hoffart ungerecht:
sind Bäume besser? Sind wir nur Geschlecht

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_087.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)