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Da nahm der kranke Mönch sich in die Hände,
wie man ein Richtschwert in die Hände nimmt,
und hieb und hieb, verwundete die Wände
und stieß sich endlich in den Grund ergrimmt.

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Aber der Alte blickte unbestimmt.


Da riß der Mönch sein Kleid sich ab wie Rinde,
und knieend hielt er es dem Alten hin.

Und sieh: er kam. Kam wie zu einem Kinde
und sagte sanft: Weißt du auch wer ich bin?

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Das wußte er. Und legte sich gelinde

dem Greis wie eine Geige unters Kinn.


Jetzt reifen schon die roten Berberitzen,
alternde Astern atmen schwach im Beet.
Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht,
wird immer warten und sich nie besitzen.

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Wer jetzt nicht seine Augen schließen kann,

gewiß, daß eine Fülle von Gesichten
in ihm nur wartet, bis die Nacht begann,
um sich in seinem Dunkel aufzurichten: –
der ist vergangen wie ein alter Mann.

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Dem kommt nichts mehr, dem stößt kein Tag mehr zu,

und alles lügt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott. Und wie ein Stein bist du,
welcher ihn täglich in die Tiefe zieht.


Du mußt nicht bangen, Gott. Sie sagen: mein
zu allen Dingen, die geduldig sind.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_078.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)