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Und war ein Fisch und wand sich schlank und schwamm

durch tiefes Wasser, still und silbergrau,
sah Quallen hangen am Korallenstamm
und sah die Haare einer Meerjungfrau,
durch die das Wasser rauschte wie ein Kamm.

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Und kam zu Land und war ein Bräutigam

bei einer Toten, wie man ihn erwählt,
damit kein Mädchen fremd und unvermählt
des Paradieses Wiesenland beschritte.

Er folgte ihr und ordnete die Tritte

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und tanzte rund, sie immer in der Mitte,

und seine Arme tanzten rund um ihn.
Dann horchte er, als wäre eine dritte
Gestalt ganz sachte in das Spiel getreten,
die diesem Tanzen nicht zu glauben schien.

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Und da erkannte er: jetzt mußt du beten,

denn dieser ist es, welcher den Propheten
wie eine große Krone sich verliehn.
Wir halten ihn, um den wir täglich flehten,
wir ernten ihn, den einstens Ausgesäten,

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und kehren heim mit ruhenden Geräten

in langen Reihen wie in Melodien.
Und er verneigte sich ergriffen, tief.
Aber der Alte war, als ob er schliefe,
und sah es nicht, obwohl sein Aug nicht schlief.

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Und er verneigte sich in solche Tiefe,

daß ihm ein Zittern durch die Glieder lief.
Aber der Alte ward es nicht gewahr.

Da faßte sich der kranke Mönch am Haar
und schlug sich wie ein Kleid an einen Baum.

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Aber der Alte stand und sah es kaum.
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_077.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)