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Und alle waren mir so seltsam nah, –
als ob die Männer einen Blutsverwandten,

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die Frauen einen Freund in mir erkannten,

und auch die Hunde kamen, die ich sah.


Du Gott, ich möchte viele Pilger sein,
um so, ein langer Zug, zu dir zu gehn,
und um ein großes Stück von dir zu sein:
du Garten mit den lebenden Alleen.

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Wenn ich so gehe wie ich bin, allein, –

wer merkt es denn? Wer sieht mich zu dir gehn?
Wen reißt es hin? Wen regt es auf, und wen
bekehrt es dir?
 Als wäre nichts geschehn,

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– lachen sie weiter. Und da bin ich froh,

daß ich so gehe, wie ich bin; denn so
kann keiner von den Lachenden mich sehn.


Bei Tag bist du das Hörensagen,
das flüsternd um die vielen fließt;
die Stille nach dem Stundenschlagen,
welche sich langsam wieder schließt.

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Je mehr der Tag mit immer schwächern

Gebärden sich nach Abend neigt,
je mehr bist du, mein Gott. Es steigt
dein Reich wie Rauch aus allen Dächern.


Ein Pilgermorgen. Von den harten Lagern,
auf das ein jeder wie vergiftet fiel,
erhebt sich bei dem ersten Glockenspiel
ein Volk von hagern Morgensegen-Sagern,

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auf das die frühe Sonne niederbrennt:
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_074.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)