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Du bist der Dinge tiefer Inbegriff,

der seines Wesens letztes Wort verschweigt
und sich den andern immer anders zeigt:
dem Schiff als Küste und dem Land als Schiff.


Du bist das Kloster zu den Wundenmalen.
Mit zweiunddreißig alten Kathedralen
und fünfzig Kirchen, welche aus Opalen
und Stücken Bernstein aufgemauert sind.

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Auf jedem Ding im Klosterhofe

liegt deines Klanges eine Strophe,
und das gewaltige Tor beginnt.

In langen Häusern wohnen Nonnen,
Schwarzschwestern, siebenhundertzehn.

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Manchmal kommt eine an den Bronnen,

und eine steht wie eingesponnen,
und eine, wie in Abendsonnen,
geht schlank in schweigsamen Alleen.

Aber die meisten sieht man nie;

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sie bleiben in der Häuser Schweigen

wie in der kranken Brust der Geigen
die Melodie, die keiner kann ...

Und um die Kirchen rings im Kreise,
von schmachtendem Jasmin umstellt,

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sind Gräberstätten, welche leise

wie Steine reden von der Welt.
Von jener Welt, die nichtmehr ist,
obwohl sie an das Kloster brandet,
in eitel Tag und Tand gewandet

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und gleich bereit zu Lust und List.
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_070.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)