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Das Land ist weit, in Winden, eben,
sehr großen Himmeln preisgegeben

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und alten Wäldern untertan.

Die kleinen Dörfer, die sich nahn,
vergehen wieder wie Geläute
und wie ein Gestern und ein Heute
und so wie alles, was wir sahn.

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Aber an dieses Stromes Lauf

stehn immer wieder Städte auf
und kommen wie auf Flügelschlägen
der feierlichen Fahrt entgegen.

Und manchmal lenkt das Schiff zu Stellen,

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die einsam, sonder Dorf und Stadt,

auf etwas warten an den Wellen, –
auf den, der keine Heimat hat ...
Für solche stehn dort kleine Wagen
(ein jeder mit drei Pferden vor),

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die atemlos nach Abend jagen

auf einem Weg, der sich verlor.


In diesem Dorfe steht das letzte Haus
so einsam wie das letzte Haus der Welt.

Die Straße, die das kleine Dorf nicht hält,
geht langsam weiter in die Nacht hinaus.

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Das kleine Dorf ist nur ein Übergang

zwischen zwei Weiten, ahnungsvoll und bang,
ein Weg an Häusern hin statt eines Stegs.

Und die das Dorf verlassen, wandern lang,
und viele sterben vielleicht unterwegs.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_066.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)