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der sich vermaß, den Vögeln allen
im Fliegen es zuvorzutun.

(Denn auch die Engel fliegen nicht mehr.

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Schweren Vögeln gleichen die Seraphim,

welche um ihn sitzen und sinnen;
Trümmern von Vögeln, Pinguinen
gleichen sie, wie sie verkümmern ...)


Du meinst die Demut. Angesichter
gesenkt in stillem Dichverstehn.
So gehen abends junge Dichter
in den entlegenen Alleen.

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So stehn die Bauern um die Leiche,

wenn sich ein Kind im Tod verlor, –
und was geschieht, ist doch das gleiche:
es geht ein Übergroßes vor.

Wer dich zum ersten Mal gewahrt,

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den stört der Nachbar und die Uhr,

der geht, gebeugt zu deiner Spur,
und wie beladen und bejahrt.
Erst später naht er der Natur
und fühlt die Winde und die Fernen,

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hört dich, geflüstert von der Flur,

sieht dich, gesungen von den Sternen,
und kann dich nirgends mehr verlernen,
und alles ist dein Mantel nur.

Ihm bist du neu und nah und gut

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und wunderschön wie eine Reise,

die er in stillen Schiffen leise
auf einem großen Flusse tut.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 65. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_065.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)