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Zufälle sind die Menschen, Stimmen, Stücke,

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Alltage, Ängste, viele kleine Glücke,

verkleidet schon als Kinder, eingemummt,
als Masken mündig, als Gesicht verstummt.

Ich denke oft: Schatzhäuser müssen sein,
wo alle diese vielen Leben liegen

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wie Panzer oder Sänften oder Wiegen,

in welche nie ein Wirklicher gestiegen,
und wie Gewänder, welche ganz allein
nicht stehen können und sich sinkend schmiegen
an starke Wände aus gewölbtem Stein.

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Und wenn ich abends immer weiterginge

aus meinem Garten, drin ich müde bin, –
ich weiß: Dann führen alle Wege hin
zum Arsenal der ungelebten Dinge.
Dort ist kein Baum, als legte sich das Land,

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und wie um ein Gefängnis hängt die Wand

ganz fensterlos in siebenfachem Ringe.
Und ihre Tore mit den Eisenspangen,
die denen wehren, welche hinverlangen,
und ihre Gitter sind von Menschenhand.


Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt
wie aus dem Kerker, der ihn haßt und hält, –
es ist ein großes Wunder in der Welt:
ich fühle: alles Leben wird gelebt.

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Wer lebt es denn? Sind das die Dinge, die

wie eine ungespielte Melodie
im Abend wie in einer Harfe stehn?
Sind das die Winde, die von Wassern wehn,
sind das die Zweige, die sich Zeichen geben,

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sind das die Blumen, die die Düfte weben,
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_061.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)