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Liebt man denn einen Vater? Geht man nicht,

wie du von mir gingst, Härte im Gesicht,
von seinen hülflos leeren Händen fort?
Legt man nicht leise sein verwelktes Wort
in alte Bücher, die man selten liest?

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Fließt man nicht wie von einer Wasserscheide

von seinem Herzen ab zu Lust und Leide?
Ist uns der Vater denn nicht das, was war;
vergangne Jahre, welche fremd gedacht,
veraltete Gebärde, tote Tracht,

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verblühte Hände und verblichnes Haar?

Und war er selbst für seine Zeit ein Held,
er ist das Blatt, das, wenn wir wachsen, fällt.


Und seine Sorgfalt ist uns wie ein Alp,
und seine Stimme ist uns wie ein Stein, –
wir möchten seiner Rede hörig sein,
aber wir hören seine Worte halb.

5
Das große Drama zwischen ihm und uns

lärmt viel zu laut, einander zu verstehn,
wir sehen nur die Formen seines Munds,
aus denen Silben fallen, die vergehn.
So sind wir noch viel ferner ihm als fern,

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wenn auch die Liebe uns noch weit verwebt,

erst wenn er sterben muß auf diesem Stern,
sehn wir, daß er auf diesem Stern gelebt.

Das ist der Vater uns. Und ich – ich soll
dich Vater nennen?

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Das hieße tausendmal mich von dir trennen.

Du bist mein Sohn. Ich werde dich erkennen,
wie man sein einzigliebes Kind erkennt, auch dann,
wenn es ein Mann geworden ist, ein alter Mann.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_057.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)