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als Duft in mein gesenktes Angesicht

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aus Erde steigt.


Du Ewiger, du hast dich mir gezeigt.
Ich liebe dich wie einen lieben Sohn,
der mich einmal verlassen hat als Kind,
weil ihn das Schicksal rief auf einen Thron,

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vor dem die Länder alle Täler sind.

Ich bin zurückgeblieben wie ein Greis,
der seinen großen Sohn nicht mehr versteht
und wenig von den neuen Dingen weiß,
zu welchen seines Samens Wille geht.

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Ich bebe manchmal für dein tiefes Glück,

das auf so vielen fremden Schiffen fährt,
ich wünsche manchmal dich in mich zurück,
in dieses Dunkel, das dich großgenährt.
Ich bange manchmal, daß du nicht mehr bist,

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wenn ich mich sehr verliere an die Zeit.

Dann les ich von dir: Der Evangelist
schreibt überall von deiner Ewigkeit.

Ich bin der Vater; doch der Sohn ist mehr,
ist alles, was der Vater war, und der,

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der er nicht wurde, wird in jenem groß;

er ist die Zukunft und die Wiederkehr,
er ist der Schoß, er ist das Meer ...


Dir ist mein Beten keine Blasphemie:
als schlüge ich in alten Büchern nach,
daß ich dir sehr verwandt bin – tausendfach.

Ich will dir Liebe geben. Die und die ....

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_056.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)