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Bist du denn alles, – ich der Eine,
der sich ergibt und sich empört?
Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,

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und du der Eine, der es hört?


Hörst du denn etwas neben mir?
Sind da noch Stimmen außer meiner?
Ist da ein Sturm? Auch ich bin einer,
und meine Wälder winken dir.

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Ist da ein Lied, ein krankes, kleines,

das dich am Micherhören stört, –
auch ich bin eines, höre meines,
das einsam ist und unerhört.

Ich bin derselbe noch, der bange

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dich manchmal fragte, wer du seist.

Nach jedem Sonnenuntergange
bin ich verwundet und verwaist,
ein blasser allem Abgelöster
und ein Verschmähter jeder Schar,

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und alle Dinge stehn wie Klöster,

in denen ich gefangen war.
Dann brauch ich dich, du Eingeweihter,
du sanfter Nachbar jeder Not,
du meines Leidens leiser Zweiter,

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du Gott, dann brauch ich dich wie Brot.

Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte
für Menschen, die nicht schlafen, sind:
da sind sie alle Ungerechte,
der Greis, die Jungfrau und das Kind.

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Sie fahren auf wie totgesagt,

von schwarzen Dingen nah umgeben,

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_054.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)