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Von deinen Sinnen hinausgesandt,

geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand.

Hinter den Dingen wachse als Brand,
daß ihre Schatten ausgespannt

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immer mich ganz bedecken.


Laß dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muß nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,

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das sie das Leben nennen.


Du wirst es erkennen
an seinem Ernste.

Gieb mir die Hand.


Ich war bei den ältesten Mönchen, den Malern und Mythenmeldern,
die schrieben ruhig Geschichten und zeichneten Runen des Ruhms.
Und ich seh dich in meinen Gesichten mit Winden, Wassern und Wäldern
rauschend am Rande des Christentums,

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du Land, nicht zu lichten.


Ich will dich erzählen, ich will dich beschaun und beschreiben,
nicht mit Bol[1] und mit Gold, nur mit Tinte aus Apfelbaumrinden;
ich kann auch mit Perlen dich nicht an die Blätter binden,


  1. Bolus: Erdpigment, das in der Tafelmalerei vor allem für Goldgründe eingesetzt wird. Siehe [1].
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Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_043.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)