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doch meine Reiche, die ich schweigend runde,

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versammeln sich in meinem Hintergrunde,

und meine Sinne sind noch Gossudar.[1]

Für sie ist beten immer noch: erbauen,
aus allen Maßen bauen, daß das Grauen
fast wie die Größe wird und schön, –

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und: jedes Hinknien und Vertrauen

(daß es die andern nicht beschauen)
mit vielen goldenen und blauen
und bunten Kuppeln überhöhn.

Denn was sind Kirchen und sind Klöster

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in ihrem Steigen und Erstehn

als Harfen, tönende Vertröster,
durch die die Hände Halberlöster
vor Königen und Jungfraun gehn.


Und Gott befiehlt mir, daß ich schriebe:

Den Königen sei Grausamkeit.
Sie ist der Engel vor der Liebe,
und ohne diesen Bogen bliebe

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 mir keine Brücke in die Zeit.


Und Gott befiehlt mir, daß ich male:

Die Zeit ist mir mein tiefstes Weh,
so legte ich in ihre Schale:
das wache Weib, die Wundenmale,

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 den reichen Tod (daß er sie zahle),

der Städte bange Bacchanale,
den Wahnsinn und die Könige.


  1. Gossudar: russische Bezeichnung für Herrscher, Fürst.
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_038.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2021)