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es senkte sich mein Angesicht
zu besserem Gebet.
Den andern war ich wie ein Wind,

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da ich sie rüttelnd rief.

Weit war ich, wo die Engel sind,
hoch, wo das Licht in nichts zerrinnt –
Gott aber dunkelt tief.

Die Engel sind das letzte Wehn

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an seines Wipfels Saum;

daß sie aus seinen Ästen gehn,
ist ihnen wie ein Traum.
Sie glauben dort dem Lichte mehr
als Gottes schwarzer Kraft,

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es flüchtete sich Lucifer

in ihre Nachbarschaft.

Er ist der Fürst im Land des Lichts,
und seine Stirne steht
so steil am großen Glanz des Nichts,

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daß er, versengten Angesichts,

nach Finsternissen fleht.
Er ist der helle Gott der Zeit,
zu dem sie laut erwacht,
und weil er oft in Schmerzen schreit

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und oft in Schmerzen lacht,

glaubt sie an seine Seligkeit
und hangt an seiner Macht.

Die Zeit ist wie ein welker Rand
an einem Buchenblatt.

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Sie ist das glänzende Gewand,

das Gott verworfen hat,

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_036.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)