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Dein großer Mantel läßt dich los.

Dein Blick, den ich mit meiner Wange
warm, wie mit einem Pfühl, empfange,
wird kommen, wird mich suchen, lange –
und legt beim Sonnenuntergange

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sich fremden Steinen in den Schoß.


Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.


Du bist der raunende Verrußte,
auf allen Öfen schläfst du breit.
Das Wissen ist nur in der Zeit.
Du bist der dunkle Unbewußte

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von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Du bist der Bittende und Bange,
der aller Dinge Sinn beschwert.
Du bist die Silbe im Gesange,
die immer zitternder im Zwange

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der starken Stimmen wiederkehrt.


Du hast dich anders nie gelehrt:

Denn du bist nicht der Schönumscharte,
um welchen sich der Reichtum reiht.
Du bist der Schlichte, welcher sparte.

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Du bist der Bauer mit dem Barte

von Ewigkeit zu Ewigkeit.


An den jungen Bruder.

Du, gestern Knabe, dem die Wirrnis kam:
daß sich dein Blut in Blindheit nicht vergeude.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_027.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)