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Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug,
um jede Stunde zu weihn.
Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug,
um vor dir zu sein wie ein Ding,

5
dunkel und klug.

Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten
die Wege zur Tat;
und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten,
wenn etwas naht,

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unter den Wissenden sein

oder allein.
Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,
und will niemals blind sein oder zu alt,
um dein schweres schwankendes Bild zu halten.

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Ich will mich entfalten.

Nirgends will ich gebogen bleiben,
denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.
Und ich will meinen Sinn
wahr vor dir. Ich will mich beschreiben,

20
wie ein Bild das ich sah

lange und nah,
wie ein Wort, das ich begriff,
wie meinen täglichen Krug,
wie meiner Mutter Gesicht,

25
wie ein Schiff,

das mich trug
durch den tödlichsten Sturm.


Du siehst, ich will viel.
Vielleicht will ich alles:
das Dunkel jedes unendlichen Falles
und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel.

Empfohlene Zitierweise:
Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch. Leipzig: Insel-Verlag. 1918, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Stundenbuch_(Rilke)_013.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)