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Alfred Schirokauer: Das Gespenst der Menschheit (Reclams Universum, Jahrgang 33)

Das Gespenst der Menschheit.
Skizze von Alfred Schirokauer.

Das Trommelfeuer gewitterte über die ersten deutschen Stellungen. In den Unterständen geduckt, harrten die Kämpfer mit verbissenen Zähnen und blutleeren Lippen.

Da – eine jähe Pause durchschnitt das Getöse, wie hineingesetzt von einem ungeheueren Schwerte. Dann brach das Donnergeroll mit erneuter Wut los. Doch es war kein Trommelfeuer mehr, es war das Sperrfeuer, das hinter die ersten deutschen Linien gegen die Reserven gelegt wurde. Alles sprang auf, und schon gellten die Schreie der Wachtposten:

„Sie kommen – sie kommen!!“

Über die zerschmetterten, aufgewühlten Grabenreste stürzte alles zur Brustwehr. Von hinten drangen die Reserven heran, trotz Glut und Verderben.

Und da kamen sie auch schon. Schwarmlinien voran, dichter geschlossen dahinter die Sturmkolonnen in fünfzehn brandende Wellen gestaffelt. Das Schützenfeuer knatterte, Schrapnelle sprühten ihr Verhängnis. Dann waren sie im vordersten Graben. Spaten schmetterten nieder auf aufspritzende Schädel, Handgranaten bellten, Brownings zuckten blauweiß auf, Dolche stießen in weiches Fleisch. Unmenschliche Schreie gurgelten, sagendunkle Greuel wüteten.

Kurz war der Kampf. Die Eingedrungenen wurden niedergemacht. Der Gegenstoß folgte, warf den Feind zurück. Das Schnauben, Klirren und Stöhnen drängte sich nach vorn, in das gähnende Trichterfeld. –

Ernst Heßberg, der Dichter, lag im Graben. Das Sprengstück einer Handgranate war in das Knöchelgelenk gedrungen. Die Wunde blutete schmerzend. Er riß das Koppel vom Leibe und schnallte mit festem Griff die geborstene Arterie ab. Dann lag er still und horchte hinaus in den sich vorwärtswühlenden Kampf der dunklen Nacht.

Da regte sich etwas neben ihm. Ein Winseln kroch durch die tote Stille des Grabens. Heßberg hob sich auf dem Ellenbogen empor und tastete neben sich. Er griff in feuchte, klebrige Erde. Wußte, es war Blut. Er tastete weiter, faßte eine Tuchhose, unter der das Fleisch zuckte. Er riß die Taschenlampe vom Gürtel, schraubte sie an. Der blendende Strahl fiel in ein fahles Gesicht. Es war ein Franzose. Der Lichtkegel in Heßbergs Hand suchte die Verwundung. Schwarzes Blut sickerte unter dem Waffenrock aus dem Bund der Hose hervor. Ein Dolchstoß in die Eingeweide. Des Schmerzes im Fuße nicht achtend, beugte der Dichter sich über den Verwundeten.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er.

Der Mann riß die Augen auf, der Mund verzerrte sich.

„Verfluchter deutscher Hund!“ flüsterte er. „Mörder!!“

Heßberg überhörte die Schmähung.

„Haben Sie Durst?“ fragte er und löste die Flasche vom Riemen.

Da sammelte der Franzose seine Kraft und stieß den Fuß mit dem schweren Stiefel dem Dichter in die Seite.

Der Schlag warf Heßberg zurück. Er taumelte und blieb auf der Seite liegen. Das Bein brannte, er fühlte die Ader zuckend pochen. Mit Anstrengung wälzte er sich auf den Rücken und suchte eine bequemere Lage für die schmerzende Wunde.

Über ihm klärte sich der Himmel, weiße Sterne blinkten. In ihm war ein weites Gefühl voll Weh. Und plötzlich wußte er, daß er das Gesicht des Franzosen schon einmal gesehen hatte. Wo? – wo? – grübelte er. Wo ist es mir begegnet?

Weiße Wolken jagten über den Mond, und plötzlich stand er rund und enthüllt am Himmel. Und da wußte Heßberg, wo er diesem Manne begegnet war.

Im November 1913 auf der Friedenstagung, die Grand-Chateret, der Pariser Journalist, veranstaltet hatte. Da waren sie aus Deutschland gekommen. Er und viele andere, und ein großes Festmahl hatte sie vereinigt mit Gelöbnissen und Handschlag, die deutschen und französischen Männer der Feder. Er hatte die deutsche Rede des Abends gehalten und der, der dort neben ihm lag mit zerfetzten Eingeweiden, der Dichter Frédéric Latour, hatte das französische offizielle Wort geführt. Vom Ausgleich aller Gegensätze zwischen den beiden großen Kulturnationen hatte er gesprochen und von dem Werte der persönlichen Bekanntschaft. Jetzt sähe man hinter den Werken die Menschen. Jetzt habe man Auge zu Auge, Seele zu Seele Fühlung genommen und nie mehr könnten sich untilgbare Feindseligkeiten zwischen den Männern eindrängen,

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Schirokauer: Das Gespenst der Menschheit (Reclams Universum, Jahrgang 33). Phillip Reclam jun., Leipzig 1917, Seite 1011. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Gespenst_der_Menschheit.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)