Seite:Das Ausland (1828) 286.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Das Ausland. 1,2.1828

den Türken, die ruhig in ihrem eigenen Hafen vor Anker lagen, oder den Alliirten, die in Schlachtordnung auf sie zusegelten und erklärten: sie sollten sich nur nicht wehren, es würde ihnen kein Leids geschehen – wird so viel mit jedem Tage klarer, daß die europäische Türkei bald nicht nur das Theater, sondern auch der Hauptgegenstand eines allgemeinen Krieges werden wird.

Vor allen andern Continentalmächten ist Rußland in der Lage, bei einem Kriege gegen die Türkei am meisten thätig seyn, und auch am meisten gewinnen zu können. Rußland hat das größte Interesse dabei, sich nach Süden zu auszubreiten, und wenn sein Schwert einmal aus der Scheide gezogen ist, so möchte es nicht leicht seyn zu sagen, wie weit es vordringen wird. Seine alten Plane, sich auf Kosten des Halbmondes zu vergrößeren, sind nie aufgegeben worden, ja sie wurden vielleicht noch niemals so eifrig betrieben, als seit dem allgemeinen Frieden, wenn wichtige Gründe sie auch bis jetzt noch nicht zur Ausführung zu bringen gestatteten. „Dieser wichtige Gegenstand,“ sagt ein neuerer Schriftsteller, „ist immer unter dem Siegel der Verschwiegenheit und als Cabinetsgeheimniß behandelt worden. Die feinste List und die umfassendsten Machinationen haben den Fall der ottomanischen Pforte vorbereitet. Dieses Ereigniß, welches jetzt so nahe scheint, würde vor 38 Jahren das ganze übrige Europa um so mehr in Schrecken gesetzt haben, als damals gar keine äußern Symptome dasselbe als so nahe bevorstehend angekündigt hatten.“

Es verdient bei dieser Gelegenheit wohl in das Gedächtniß zurück gerufen zu werden, daß der Fürst Potemkin im Jahre 1790 in der Verfolgung seiner Siege durch die englische Regierung gehemmt wurde; ebenso konnte später der russische Adler sich nur der Protestationen Großbritanniens wegen nicht auf den ionischen Inseln halten. Aus ähnlichen Gründen war es auch schon im Jahre 1770 ohne Folgen geblieben, daß die Russen die türkische Flotte im Hafen von Tschesme verbrannten, und mit einer nicht unbedeutenden Macht an der griechischen Küste landeten, um dem in voller Empörung begriffenen Volke in der Erkämpfung seiner Unabhängigkeit beizustehen.

Obgleich die Vergrößerung Rußlands nach dem mittelländischen Meere hin zweimal mißglückte, so verlor es doch niemals dieses Streben aus den Augen. Mochte ein Paul, ein Alexander oder ein Nikolaus auf dem Throne sitzen, so haben die Russen beständig gesucht, das griechische Kaiserthum wieder herzustellen. Die kühne Hand Katharinas zeichnete diesen Plan vor, und ihre Nachfolger sind unabläßlich bemüht gewesen, ihn, so weit ihre Kräfte und die Umstände dieß gestatteten, auszuführen. „Erinnern sich Ew. kaiserl. Majestät – so rufen die Minister (??) dem regierenden Monarchen unablässig ins Ohr – an die weisen Lehren Ihrer glorreichen Großmutter; diesen Plan hat sie selbst entworfen und ihren Nachfolgern befohlen, ihn nie aus den Augen zu verlieren. Denken Ew. Majestät an den Namen ihres Bruders Constantin; warum säugten ihn griechische Ammen? warum war die griechische Sprache die erste, die er redete? Als der beredte Pano Kiri und seine Gefährten Ihre kaiserl. Großmutter um Beistand in ihrer heiligen Sache anflehten, wurde ihnen da nicht Hülfe zugesagt? Vergessen Sie nicht, daß schon damals nach dem Falle von Ismaïl und Okschakoff dem russischen Adler der Weg nach Constantinopel offen stand, und daß die kaiserliche Fahne in wenig Monaten auf den Mauern des Serails hätte wehen können. Damals wurden die Hoffnungen Ihres Volks getäuscht, aber dieselbe Laufbahn des Ruhms ist ihm jetzt eröffnet, – der Feind hat uns selbst den Handschuh hingeworfen; lassen Sie diese schöne Gelegenheit nicht vorüber gehen; Ihre Soldaten haben eine Belohnung verdient für ihre treuen Dienste; Ihre Religion, Ihre Ehre, Ihr Wort fordern Sie zum Kriege auf.“

Wie lange wird der Ehrgeiz des Selbstherrschers aller Reußen diesen immer wiederholten Aufforderungen widerstehen können? Auch ist es ihm nicht unbekannt, daß der eine Handelsweg seines Reiches die Hälfte des Jahrs von der Natur verschlossen, und daß der andere gegenwärtig der unaufhörlichen Controlle einer rivalen Macht unterworfen ist. Als Katharina die Unabhängigkeit der Krimm stipulirte, hatte sie keinen andern Zweck, als den Fall des ottomanischen Reichs vorzubereiten, und die späteren Erwerbungen gaben diesem ersten Schlage erst seine volle Kraft. Rußland hat seitdem die Hospodare der Moldau und der Wallachei in seinen Schutz genommen; es hat für sie das Recht erlangt, daß sie nicht ohne sein Zuthun ihrer Stelle entsetzt werden können, und auf diese Weise das Mittel gewonnen, ohne Schwierigkeit in diese Provinzen einzudringen. Ferner hat Rußland ein altes Bündniß mit den Serviern, und überall, wo es Menschen gibt, die sich zur griechischen Religion bekennen, nimmt es die Interessen derselben in Schutz und kann deshalb auch ihrerseits auf die kräftigste Unterstützung zählen. Ja Rußland kann jetzt die ottomanische Pforte sogar mit leichter Mühe in Asien angreifen. In Cherson und Astrakan unterhält es eine Flotte; am kaspischen Meere hat es Festungen, und die Armee in Persien steht – sobald der Friede mit dem Schah ratificirt ist – zu seiner Verfügung. Dazu kommt, daß die Macht der Türken im Westen durch die Anstrengungen der Griechen getheilt wird, welche in dem Kaiser von Rußland ihren zukünftigen Befreier sehen.

Wie sich das Petersburger Cabinet auch öffentlich aussprechen mag, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß die russischen Armeen mit dem Frühlinge den Feldzug gegen die Türken eröffnen werden. Seitdem sich Rußland durch den Frieden von 1812 in Besitz von Bessarabien und der Festung Ismaïl befindet, so ist es für ein türkisches Heer fast unmöglich, sich in der Moldau und Wallachei zu behaupten; es würde sich beim ersten Angriff hinter die Donau zurückziehen müssen. Der erste kräftige Widerstand von Seiten der Türken ist daher zwischen Tutschuck und Silistria in der Bulgarei zu erwarten, wo der natürliche Vertheidigungsplan der ist, rechts die Pässe von Bagatag zu vertheidigen und links den Uebergang über die Donau

Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_286.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)