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Das Ausland. 1,2.1828

Der Charakter dieses Fürsten ist eine Mischung von Furchtsamkeit und Ehrsucht, von Verschwendung im Kleinen und Kargheit im Großen. Im Jahr 1815 wollte er weder Ludwig XVIII nach Gent folgen, noch gegen Napoleon sich erklären. Im Jahr 1820 protestirte er gegen die Legitimität des Herzogs von Bordeaux, aber er wagte nicht, dem wichtigen Aktenstück, von welchem das gegen ihn selbst im Jahr 1828 ausgestreute Gerücht nur die Copie zu seyn scheint, alle Oeffentlichkeit zu geben. Er sprach seine Mißbiligung gegen den spanischen Krieg aus, verstand aber nicht, von den Wechselfällen, welche ihm diese ungerechte Invasion dargeboten hätte, Nutzen zu ziehen. Er ermuthigte und unterstützte Dichter, Philosophen und Künstler, aber er verweigerte seinen Anhängern, die ihm zum Thron verhelfen wollen, das dazu erforderliche Geld.

Dieser Mangel an Entschlossenheit von seiner Seite hätte ohne Zweifel den Untergang seiner Partei nach sich gezogen, wenn er nicht Prinz von Geblüt, und als solcher immer eines, wo nicht zahlreichen doch durch Einfluß bedeutenden, Anhangs sicher wäre. Es kommen aber noch andere Momente bei dem Herzog von Orleans in Betracht. Der Sohn eines Regicide; in seiner Jugend Theilhaber an den glorreichsten Siegen der Revolution; durch seine Geburt der Verwandte der Könige; durch die Einfachheit seiner Sitten und sein Vergessen des aristokratischen Dünkels der Mann des Volks – ist er im Stande, alle Parteien Frankreichs (mit Ausnahme einer einzigen) an sein Interesse zu fesseln.

Die Communeros der Revolution und die Constitutionellen der Charte, die Bonapartisten, welche der Herzog von Orleans nicht beleidigt, und die Royalisten, welche die Bigotterie des Hofes von sich entfernt hat, neigen sich zur Orleanistenpartei hin. Ihren Mittelpunkt hat aber diese Partei in den zahlreichen Freunden einer vernünftigen Freiheit, welche sich von einem Fürsten, der seine Erhebung dem Willen der Nation verdanken würde, eine Regierung in ihrem Sinn versprechen. Der König, meinen sie, der einst als Verbannter von dem Ertrag seiner Lektionen[1] lebte, müsse keine Ansprüche gelten lassen, als die des Talents und des Verdiensts; er müsse den Schriftsteller, der das Volk belehrt, den Kaufmann, der es bereichert, den Künstler, der es durch seine Werke bildet, höher achten als den vornehmen Müßiggänger, der der Gesellschaft zur Last ist, als das ganze Heer von Wespen und Drohnen, die sich von der Arbeit der fleißigen Bienen nähren.

Was man immer von den Entwürfen der Orleanisten halten mag, so viel ist gewiß, daß vornehmlich die letzten Ereignisse es sind, welche dieser Partei eine ungeheure numerische Stärke gegeben haben. Die Wahlen von 1827 ließen keinen Zweifel über die allgemeine Verstimmung des öffentlichen Geistes. Das Ministerium wollte trotz der erlittenen Niederlage die Gewalt nicht aus seinen Händen lassen. Es hatte durch seine Skandale die öffentliche Geduld ermüdet, alle Stimmen gegen sich vereinigt, alle Meinungen gegen sich aufgebracht. Die Partei ersah diese Gelegenheit, um ihren Chef dem Publikum zu zeigen. Da trat ein junger Schriftsteller, voll Muth und Vaterlandsliebe, den der Despotismus um die Zeit der Restauration zum Exil verdammt, aber nicht zum Stillschweigen vermocht hatte, Cauchois-Lemaire, mit seinem Sendschreiben hervor, und forderte – halb im Scherze, halb im Ernste – den Herzog von Orleans auf, dem Beispiele der englischen Prinzen zu folgen, und sich an die Spitze der französischen Opposition zu stellen.

Die Schrift, die wenige Tage vor dem Sturze des Hrn. v. Villele erschien, brachte in Frankreich einen tiefen Eindruck hervor. Man kann sie als das erste Factum des Orleanismus betrachten. Sie setzte den Hof in Schrecken und beschleunigte die Bildung des neuen Ministeriums. Die Gazette de France und der Moniteur, die besoldeten Organe der Regierung, beobachteten ein absolutes Stillschweigen über die kühne Flugschrift. Die diplomatischen Blätter der Opposition, der Constitutionnel und das Journal des Debats, nicht minder. Das Journal du Commerce zitirte daraus eine ganz unschuldige und ganz constitutionnelle Stelle, schien aber durch diese Zurückhaltung nur sagen zu wollen, daß man darin noch wichtigere Sachen finden könne.

Als die unglückahnende Gazette drei Tage nachher den Namen des Herzogs von Reichstadt entdeckte, schlug sie Lärm, und erklärte, es sey von der Berufung eines fremden Fürsten zum Thron die Rede. Den folgenden Tag, als sich noch immer keine Stimme vernehmen ließ, wandte sie sich an die Quotidienne: „was sagst du dazu, Schildwache der Monarchie?“ Die Quotidienne, die nun auch in Angst gerieth, rief aus, wenn dem also sey, so sey es nicht mehr an den Publicisten zu widerlegen, sondern an dem Procurator des Königs anzuklagen, und an den Gerichten zu verurtheilen. Das nun eingeleitete strenge Verfahren gegen Cauchois-Lemaire, der mitten[2] in der Nacht aus dem Bett ins Gefängniß geholt und mit zwölf andern Gefangenen von allen Gattungen zusammen in ein Zimmer gesperrt wurde, machte den Herzog von Orleans betreten und er sprach durch seinen Advokaten, den berühmten Dupin, indirekt seine Mißbilligung über die Schrift aus. Bald erklärte indessen der Globe die Gefahr für nicht sehr groß, sofern es sich ja überall nur um eine Opposition und um keine Usurpation handle; da kehrte auch dem Prinzen der Muth wieder, und er ließ Cauchois-Lemaire durch seinen Adjutanten, Herrn von Rumilly, seines Schutzes versichern und ihm sagen, daß er nicht zu seinen Verfolgern gehöre[3].

  1. Der Herzog von Orleans war in Aarau eine Zeitlang Professor der Mathematik.
  2. Man sehe den Constitut. 13. Jan.
  3. Um die verschiedenen Nuancen des Orleanismus anzudeuten nennt die Sphynx Namen wie Talleyrand, Alexander Lameth, Sebastiani, Marmont, Chauteaubriand, Hyde de Neuville, Royer Collard, Ternaux, Dupin, Casimir de la Vigne, Vernet und Andere: eine Liste, mit welcher es wahrscheinlich nicht so ganz seine Richtigkeit hat, so wie wir überhaupt alles Gesagte, namentlich auch das Urtheil über den Charakter des Herzogs, blos getreu aus den englischen Blättern referirt haben, ohne uns ein eigenes Urtheil zu erlauben.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_214.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)