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Das Ausland. 1,2.1828

Das Ausland.
Ein Tagblatt
für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker,
mit besonderer Rücksicht auf verwandte Erscheinungen in Deutschland.

Num. 49. 18. Februar 1828.

Der Herzog von Orleans.


Chauchois-Lemaire’s Schreiben an den Herzog von Orleans[1], sein Prozeß und seine Verurtheilung haben in Deutschland mehr Aufsehen erregt, als eine, wie die französischen Journale sie darstellen, unbedeutende Sache verdienen würde. War die Absicht des Briefstellers bloß die, den Herzog von Orleans zum Chef einer aristokratischen Opposition gegen die Willkürherrschaft eines congregationalistischen Ministeriums vorzuschlagen – wie uns Cauchois-Lemaire in seiner zweiten Schrift[2], gleichsam einer rectifizirten Ausgabe der erstern, glauben machen will –, so hatten freilich die liberalen Blätter[3] leicht zu beweisen, daß die Strafe, welche die Gerichte über einen constitutionellen Irrthum verhängten, etwas stark, daß die leidenschaftliche Weise, wie der Angeklagte vor der Verurtheilung behandelt wurde, kaum zu rechtfertigen sey.

Indessen erhält man durch die englischen[4] Blätter eine andere Ansicht von der Sache.

Hier ist die Rede von nachtheiligen Gerüchten, welche bei jener Gelegenheit in Flugschriften und Salonsgesprächen gegen die Legitimität des Herzogs in Umlauf gesetzt wurden; von einer zahlreichen Orleanistenpartei, welche in Frankreich den Auftritt mit Jacob II und Wilhelm III gerne wiederholen möchte; von dem Ehrgeiz des Herzogs etc. Das Folgende, sagt die Literary Gazette, ist das Wesentliche einer – wir sind es überzeugt – aus trüber Quelle geflossenen Geschichte; aber unsre sinnreichen Nachbarn legen auf das, was sie eine Mystifikation nennen (ein Ding, wofür der ehrliche Britte kein Wort hat), zuviel Werth, als daß es möglich wäre, über die Wahrheit oder Falschheit der in mancher Beziehung unzusammenhängenden Geschichte ein Urtheil zu fällen.

Es wird behauptet, daß die Gräfin von Newborough, jetzige Baronin von Sturnberg, obgleich bei ihrer Geburt in Italien, im Mai 1773, in Folge einer Austauschung gegen ein anderes Kind, als die Tochter von Lorenz Chiappini in die Geburtsregister eingetragen, die in gesetzmäßiger Ehe erzeugte Tochter des Herzogs Orleans-Egalité sey. Es wird hinzugefügt, daß diese und die folgenden Thatsachen auf den eidlichen Zeugnissen mehrerer glaubwürdigen Personen beruhen.

Im Anfang des Frühjahrs 1773 kam ein Franzose von Auszeichnung, unter dem Namen eines Grafen von Joinville, mit seiner hochschwangeren Gemahlin in Modigliana an. Er nahm sein Absteigequartier in dem sogenannten Gerichtspalast, wo er die angesehensten Familien der Nachbarschaft bei sich empfing. Graf Pompei Borghi, der gewöhnlich die schöne Jahreszeit in derselben Stadt zubrachte, wurde in dem Zirkel des Grafen Joinville eingeführt, und es entspann sich bald ein freundschaftliches und zuletzt ein vertrautes Verhältniß zwischen beiden Häusern. Der Graf von Joinville hatte einen schweren Kummer auf dem Herzen, dessen Ursache er dem Grafen Borghi mittheilte. – „Seine Gemahlin war ihrer Niederkunft nahe. Hatte er einen Knaben oder ein Mädchen zu erwarten? Im letztern Fall standen unermeßliche Familieninteressen für ihn auf dem Spiel.“ – Chiappini war der Gefangenwärter des Gerichtshofs; seine Frau war gleichfalls schwanger, und höchst wahrscheinlich traf ihre Niederkunft mit der der Gräfin von Joinville in der Zeit zusammen. Etwas, wobei man seinen Vortheil findet, wenn es auch gegen Pflicht und Gewissen wäre, thut man um so leichter, wenn man es ohne Schwierigkeit thun kann. Chiappini’s Weib konnte einen Knaben, des Grafen Weib ein Mädchen gebären. Eine solche Möglichkeit war dem Grafen peinlich. Er machte eine Bekanntschaft mit dem Gefangenwärter, der diese Gunst mit der ganzen Dankbarkeit eines Mannes von niederem Stande aufnahm, den ein Großer mit Wohlwollen behandelt. Der Graf von Joinville eröffnete zuletzt dem Grafen Borghi seinen Plan. Chiappini wurde vor sie gerufen, und durch glänzende Versprechungen dahin vermocht, daß, wenn seine Frau mit einem Knaben, die Gräfin mit einem Mädchen niederkäme, die Kinder ausgetauscht werden sollten. Zwei Zeugen, Maria B. und Dominik B., geben an, sie hätten gehört, wie der Graf von Joinville zu Chiappini sagte, er verliere, wenn die Gräfin eine Tochter zur Welt bringe, ein großes Erbgut; eben deshalb hätte er die Austauschung der Kinder vorgeschlagen. – Wie gedacht, so gethan. In einer Stunde gab Chiappini’s Frau einem Sohn, und die Gräfin einer Tochter das Leben. Nach der Aussage derselben Zeugen wurden die Kinder unmittelbar nach der Geburt in Gegenwart des Grafen und der Gräfin Borghi ausgetauscht, und die Tochter des Grafen von Joinville erhielt in der Priorei zu Modigliana die Taufe unter den Namen Maria Stella Chiappini. Die Sache wurde indessen – man weiß nicht, auf welchem Wege – ruchbar, und der Graf von Joinville, der einen

  1. Sur la crise actuelle, lettre à S. A. R. le Duc d’Orléans
  2. Aux Liberaux. Petites lettres apologétiques.
  3. Z. B. der Globe vom 29. Dec. und 19. Jan.
  4. The literary Gazette, January 12; The Sphynx January 30.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_203.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)