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Das Ausland. 1,2.1828

Wie nun? Es giebt der freien und uneigennützigen Männer genug, die es müde sind, sich unter die alten Paniere der Parteien zu stellen, unter denen man so lange allein Ehre zu verdienen geglaubt hat; solche Männer wähle man, um aus ihnen eine unabhängige Verwaltung zu bilden, welche bei allen Angelegenheiten, die ihrer Entscheidung zukommen, nach bestem Verstand und Gewissen verfahren. Man muß berathschlagende Versammlungen kennen, um sich zu überzeugen, daß schon ein bloßer Verein dieser Art, ohne eben sehr zahlreich zu seyn, im Stande ist, Minister und Parteien im Zaum zu halten, und seine Ansicht in den meisten Fällen geltend zu machen. Dieses glückliche Verhältniß fand in der Pairskammer – Dank nicht der Berechnung, sondern dem richtigen Sinne der Franzosen – wirklich Statt, und der Versuch, es zu zerstören, wird in der Geschichte des strafbarsten aller Ministerien immer sein größtes Verbrechen bleiben.“

Frankreichs hohe Aristokratie hat die ihr im Staat gebührende Stelle nicht nur des äußern Ranges, sondern der moralisch-intellektuellen Wirksamheit eingenommen. Als Ludwig XVIII die Pairskammer errichtete, leitete ihn der doppelte Zweck, einmal in ihr dem royalistischen Adel für den Verlust seiner Feudalrechte einen ehrenvollen Ersatz zu geben, (an den materiellen, die Milliarde, wagte damals noch niemand zu denken), zweitens sie als einen Damm dem Strom der Revolution entgegen zu setzen, welcher, in die Schranken der ihrer Natur nach demokratischen Deputirtenkammer eingeschlossen, unwillig seine Ufer zu überwogen drohte. Als Decaze der Pairskammer den kaiserlichen Adel, die Elite der Nation, einverleibte, erhielt dieselbe Leben und Bewußtseyn; sie nahm die Ideen des Jahrhunderts mit seinen reichen Erfahrungen in sich auf, und die Vergangenheit mit ihren Vorurtheilen blieb weit hinter ihr zurück. Da es keine Feudalinteressen mehr gab, so hatte der royalistische Adel im Grunde nichts zu vertreten; die Pairskammer, aus ihm bestehend, wäre ein Vorzimmer des Hofes geblieben: ein Körper ohne politische Bedeutung, der Nation entfremdet, und von ihr beargwohnt, hätte sie nicht einmal dem Hofe wesentliche Dienste leisten können. Durch die Napoleon’sche Aristokratie, diese Tochter des Verdienstes und des Ruhms, ist die Pairskammer für Frankreich ein Bollwerk der Freiheit geworden, an dem die verderblichen Plane des Villele’schen Ministeriums scheiterten.

Die Contrerevolution hatte sich völlig verrechnet, als sie den meisten Widerstand von Seiten der Wahlkammer befürchtete, als sie, um diese zu unterjochen, Geld, Aemter und Versprechungen verschwendete, und dabei immer die Ergebenheit der Pairskammer, die Identität von royalistischer, aristokratischer und ministerieller Gesinnung voraussetzte. Die Pairs dagegen waren überzeugt, daß sie wohl noch etwas Besseres zu thun hätten, als bloß die Diener der jeweiligen Gewalt zu seyn. Seitdem die alten und die neuen Chefs des Royalismus angefangen haben, sich zu trennen, zeigt die Aristokratie allgemein und unverholen ihre Neigung für ein Regierungssystem, in welchem Ueberlegenheit der Bildung und des Vermögens zu den ersten Stellen im Staat berechtigen. Gibt es auch noch eine alte Aristokratie, so weiß diese zu gut, daß sie mit der neuen gleichen Schritt halten muß, wenn sie nicht zur gänzlichen Nichtigkeit herabsinken will.

In einer äußerlich unabhängigen Lage; im Besitz eines auf Ansehen, Reichthum und Talente gegründeten Einflusses; von den trüben Gährungen der Masse, deren Quelle Nicht-Befriedigung ist, unberührt; das Leben darstellend in seinen höchsten gesellschaftlichen Entwicklungen als Intelligenz, Humanität und Sitte – ist diese glänzende Versammlung berufen, Frankreich auf der Bahn der Freiheit und Ehre, der Wahrheit und des Rechts voranzuleuchten. So gehört die Pairskammer zu den edelsten Institutionen eines hochcivilisirten Volks, welche zugleich die zeitgemäßesten sind. Die Tribüne, der Schauplatz des Talents, wo sich seit dem Bestehen der Charte so manches Verdienst Anerkennung verschafft, die Stufenleiter zur Macht, auf welcher so mancher Ehrgeizige sich emporgeschwungen, das oberste Tribunal der öffentlichen Meinung, vor welchem so manche Klage gegen Mißbräuche, Gewalt und Unterdrückung oft allein Hülfe gefunden, diese Tribüne, von einer bestochenen Majorität in der Deputirten-Kammer verrathen, wurde von der Pairskammer gerettet. Als die Vertreter des Volks gegen die Rechte des Volks sich verschworen, als sie zu ihrer eigenen politischen Vernichtung der Contrerevolution die Hand boten, – was wäre aus Frankreich geworden, wenn die Aristokraten eben so engherzig und servil gewesen wären, als diese Plebejer? Wir lassen die Frage unbeantwortet. Auf eine andere, noch wichtigere Frage, was jetzt nach der Niederlage der Contrerevolution aus Frankreich werden solle, haben die Wahlcollegien geantwortet, antwortet der ultraroyalistische Montlosier als Mitarbeiter des Constitutionel, und der vormalige Congregationalist Vatismenil, der jetzt als Großmeister der Universität die Wichtigkeit der Volksaufklärung empfiehlt. Der Kampf der Meinungen hat ein Ende: die Theorien haben sich in Interessen verwandelt. Als die Contrerevolution es unternahm, eine mit Millionen Fasern in dem Boden der Geschichte wurzelnde Wirklichkeit auszurotten, hätte sie nicht vorher nach dem Archimedischen δός μοι, ποῦ στῶ fragen sollen? – Es war doch wohl zu vermessen, von dem Eifer einiger Duzend Enthusiasten und den bezahlten Diensten einer Legion von Heuchlern, die nun ohne Zweifel die beschwerliche Bürde abwerfen werden, die Ausführung so großer Dinge zu erwarten. Bald muß es sich entscheiden, ob die sechs und siebenzig neuen Pairs noch Lust haben werden, im Gefolge des Herrn von Villele aufzutreten, nachdem dieser die Macht verloren, oder ob sie die öffentliche Meinung durch ein edles und loyales Benehmen mit ihrer Pairschaft aussöhnen können.

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: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_198.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)