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Das Ausland. 1,2.1828

Reisen eines Orientalen in Europa.


(Fortsetzung.)

„Die im Testamente niedergelegten Gebote heißen: „die Menschen sollen nur Einen Gott haben; sie sollen glauben an sein Wort und an seine Propheten; sie sollen kein falsch Zeugniß ablegen, und sich der Lüge enthalten; sie sollen nicht ehebrechen und nicht tödten, und die Armen und Nächsten behandeln als ihre Brüder.“

Als Mirza in England ankam, ging er mit seinem Begleiter dem Capitän S., nach dessen Wohnung in Covent Garden. Der Mirza gefiel bald in London, und erklärte, daß ihm die Einwohner von London gleichfalls gefielen. „Wirklich,“ setzte der hinzu, „ich kann den Werth und die Tugenden der Europäer nicht genug loben, denn sie schätzen einen Reisenden oder den Bewohner eines fremden Landes theurer als ihr eigenes Leben.“ Im Laufe von zwei oder drei Monaten hatte er mit jedermann Freundschaft geschlossen. „Die Damen des Bazars“ (etwa von Billingsgate?) lächelten mir zu, und sagten: „Komm Lieber, umarme mich!“ Der Anblick des Parks bringt ihn ganz außer sich. „Allenthalben gehen Frauenzimmer mit Silber bedeckt, wie Pfauen, einher; an jeder Straßenecke locken schöne Herzräuberinnen mit tausend Liebkosungen und schmeichlerischem Wesen. Das Thal der Erde wird ein Paradies durch ihre glänzende Stirn, und der Himmel selbst läßt das Haupt sinken vor Scham, wenn er die Schönheit der Lieblichen sieht.“ In Entzückung ruft er aus: „Wenn’s einen Himmel gibt auf Erden, so ist es hier, so ist es hier!“ – Ueber die Heirathen in England, überhaupt in Europa, bemerkt er folgendes: „Die Einwilligung ist sowohl von Seite der Frau als des Mannes erforderlich. Auch ist nothwendig, daß der Mann hübsch, von angenehmer Gemüthsart, reich und erfahren in Geschäften sey. Das Frauenzimmer muß ebenfalls schön, und von gutem Charakter seyn, etwas Vermögen, entweder von ihrem Vater oder von ihrem früheren Ehemann haben, und in einigen der freien Künste bewandert seyn. Daß alle diese guten Eigenschaften sich in derselben Person zusammen finden, ist ein seltner Fall. Wenn daher ein Mann und eine Frau von dieser Art eine Ehe eingehen, so ist das ein glücklicher Umstand. Einige Leute sehen blos auf Reichthum. Wenn ein Mädchen zufällig häßlich und arm ist, so verbindet sich niemand mit ihr, denn Europa ist der Sammelplatz der Schönheit. Ausgezeichnet liebenswürdige Weiber sind gewöhnlich; auch giebt es viele reiche und tugendsame. Daher kommt es, daß wenn ein Frauenzimmer weder Schönheit noch Reichthum besitzt, niemand sich um sie bekümmert. Es giebt Tausende von alten Jungfern, die nie, ach nie, das Angesicht eines Mannes gesehen haben.“

Mirzas Schilderung des brittischen Charakters ist für die Engländer schmeichelhaft:

Die Kaste der Engländer ist frei von eitlem Selbstlob; wenn sie von ihren Thaten sprechen, so betrachten sie sie als unbedeutend. Wird ein Officier, der sich durch unternehmenden Geist und Muth ausgezeichnet, nach dem Hergange in der Schlacht gefragt, so erzählt er blos, welche Thatsachen dabei vorgefallen sind. Wenn ein Anderer das Betragen und den Muth des Officiers (der vor ihm steht) laut rühmt, so wendet dieser die Augen gegen seine Füße, und schweigt, und vor lauter Blödigkeit läuft ihm der Schweiß von der Stirne. Im allgemeinen lieben es die Engländer nicht, ins Gesicht gelobt zu werden; es beleidigt sie vielmehr, und erregt ihren Unwillen. Einen selbstsüchtigen Menschen halten sie für feig, Zuträger und Schmeichler für Lügner. In ihren Gesellschaften ist daher Schmeichelei nicht gebräuchlich.“

„Prahler und Schmeichler sind in den Augen verständiger Männer verächtlich; die Schmeichelei ist in Wahrheit eine thörichte Gewohnheit; gleichwohl sind die Seapony’s und hindustanischen Officiere, besonders die von Delhi, der Meinung, daß Schmeichelei und Prahlerei ihnen Ansehen gebe. Wenn z. B. einem Menschen nach vieler Mühe und Arbeit endlich gelingt, einen Fuchs zu tödten, so macht er die Kunde durch die Stadt, und erzählt mit lauter Stimme, er habe einen Tiger erlegt; dabei streicht er sich mit Selbstgenügsamkeit den Bart, und bläht sich auf, so daß das Kleid ihm zu eng wird. Die Thaten Anderer sind in Vergleich mit seiner Tapferkeit so viel wie nichts; ja, er beweist, daß Rustum[1] nur ein Schwächling gewesen.“

Von der Erziehung in England entwirft der Verfasser ein Bild, das seinen Landsleuten als Gegensatz der ihrigen erscheinen mußte:

„Die reichen Leute in England beschäftigen ihre Söhne und Töchter vom vierten Jahre an beständig mit Schreiben, Lesen und Rechnen; sie gestatten ihnen nicht müßig zu gehen. Wenn ein Mann oder eine Frau keine Musik versteht, oder nicht tanzen oder reiten kann, so glauben alle angesehenen Leute, daß er oder sie von geringer Herkunft sey, und es fehlt nicht an Hohn und Spott. Es heißt dann: seine Eltern waren arm, und konnten nichts auf die Erziehung ihrer Kinder verwenden, darum sind sie in allen Dingen unwissend. Die Frauenzimmer vorzüglich, die weder tanzen noch singen können, werden mit Mitleiden angesehen, und können niemals gut verheirathet werden. Kurz, die Art wie die Engländer erzogen werden, ist ganz und gar verschieden von der in Indien, wo die Söhne der Großen und Vornehmen auf gut Glück erzogen werden. In der Schule, wo man glauben sollte, daß sie Kenntnisse einsammeln, nehmen sie tausend üble Gewohnheiten an. Aber auf alles das sehen unsere Männer von Stande nicht, und solche Erziehung wird nicht für schimpflich gehalten. In England dagegen giebt man sich Mühe und verwendet sogar Geld für die Erlernung der Weisheit.“

(Schluß f.)
  1. Rustum oder Rostam ist der größte und berühmteste unter den Helden Persiens, von dessen Thaten die orientalischen Geschichten und Romane voll sind. Er lebt vor Cyrus, zur Zeit der Babylonischen Gefangenschaft der Juden. Vergl. Herbelot, Art. Rostam.
Empfohlene Zitierweise:
: Das Ausland. 1,2.1828. Cotta, München 1828, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Ausland_(1828)_134.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)