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wiederkehrender Kampf zwischen den Männchen um den Besitz der Weibchen stattfindet.

Die Schwierigkeit in Bezug auf geschlechtliche Zuchtwahl liegt für uns darin, zu verstehen, wie es kommt, dass diejenigen Männchen, welche andere besiegen, oder diejenigen, welche sich als den Weibchen am meisten anziehend erweisen, eine grössere Zahl von Nachkommen hinterlassen, um ihre Superiorität zu erben, als die besiegten und weniger anziehenden Männchen. Wenn dieses Resultat nicht erlangt wird, so können die Charactere, welche gewissen Männchen einen Vortheil über andere verleihen, nicht durch geschlechtliche Zuchtwahl vervollkommnet und angehäuft werden. Wenn die Geschlechter in genau gleicher Anzahl existiren, so werden doch die am schlechtesten ausgerüsteten Männchen schliesslich auch Weibchen finden (mit Ausnahme der Fälle, wo Polygamie herrscht) und dann ebenso viele und für ihre allgemeinen Lebensgewohnheiten gleichmässig gut ausgerüstete Nachkommen hinterlassen als die bestbegabten Männchen. In Folge verschiedener Thatsachen und Betrachtungen war ich früher zu dem Schlüsse gekommen, dass bei den meisten Thieren, bei denen secundäre Sexualcharactere gut entwickelt sind, die Männchen den Weibchen an Zahl beträchtlich überlegen sind; dies ist aber durchaus nicht immer richtig. Verhielten sich die Männchen zu den Weibchen wie zwei zu eins oder wie drei zu zwei oder selbst in einem noch etwas geringeren Verhältnisse, so würde die ganze Angelegenheit einfach sein. Denn die besser bewaffneten oder grössere Anziehungskraft darbietenden Männchen würden die grösste Zahl von Nachkommen hinterlassen. Nachdem ich aber, soweit es möglich ist, die numerischen Verhältnisse der Geschlechter untersucht habe, glaube ich nicht, dass irgend welche bedeutende Ungleichheit der Zahl für gewöhnlich existirt. In den meisten Fällen scheint die geschlechtliche Zuchtwahl in der folgenden Art und Weise in Wirksamkeit gekommen zu sein.

Wir wollen irgend eine Species, z. B. einen Vogel, annehmen und die Weibchen, welche einen Bezirk bewohnen, in zwei gleiche Massen theilen; die eine bestehe aus den kräftigeren und besser genährten Individuen, die andere aus den weniger kräftigen und weniger gesunden. Es kann darüber kaum ein Zweifel bestehen, dass die ersteren im Frühjahre vor den letzteren zur Brut bereit sein werden; und das ist auch die Meinung von Mr. Jenner Weir, welcher viele Jahre hindurch die Lebensweise der Vögel aufmerksam beobachtet hat. Auch darüber


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/293&oldid=- (Version vom 31.7.2018)