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Tief unterm Riesen, näher schon der Mitte,
Und nach der hohen Mauer sah ich noch.

19
Da hört’ ich sagen: „Schau’ auf deine Schritte,

Daß du den Armen nicht im Weiterziehn
Die Häupter stampfen magst mit deinem Tritte.“

22
Drum wandt’ ich mich, und vor mir hin erschien

Und unter meinen Füßen auch, ein Weiher,
Der durch den Frost Glas, und nicht Wasser, schien.

25
Die Donau bleibt im Frost vom Eise freier,

Und nah dem Pol selbst in der längsten Nacht
Deckt nicht den Tanais ein so dichter Schleier.

28
Und wäre Tabernik herabgekracht[1]

Und Pietrapan, nicht hätte nur am Saume
Bei ihrem Sturz dies harte Eis gekracht.

31
Wie Abends, wenn die Bäuerin im Traume

Noch Aehren liest – die Schnauze vorgestreckt,
Der Frösche Volk quäkt aus dem nassen Raume;

34
Also, bis wo das Schamroth sich entdeckt, (bis zum Nacken)

Fahl, mit dem Ton des Storchs die Zähne schlagend,
War elend Geistervolk im Eis versteckt,

37
Zur Tiefe hingewandt das Antlitz tragend,

Vom Froste mit dem Mund, und von den Weh’n
Des Herzens mit den Augen Zeugniß sagend.

40
Als ich ein Weilchen erst mich umgesehn,

Schaut’ ich zum Boden hin und sah von oben
Zwei, eng umfaßt, vermischt das Haupthaar, stehn.

43
„„Ihr, die ihr drängend Brust an Brust geschoben,

Wer seid ihr?““ sprach ich; dann, als sie auf mich,
Die Hälse rückend, ihre Blick’ erhoben,

46
Sah ich die Augen, feucht erst innerlich,

Von Thränen träufeln, die, noch kaum ergossen,
Zu Eis erstarrten; und sie schlossen sich,

49
Fest, wie nie Klammern Holz an Holz geschlossen;

Drum stießen sich im Grimme wilden Streits,
Gleich zweien Böcken, diese Qualgenossen.

52
Und einer, der sein Ohrenpaar bereits

Durch Frost verlor, brach, stets gebückt, das Schweigen:
„Was hängst du so am Schauspiel unsres Leids?

55
[183] Soll ich, wer diese beiden sind, dir zeigen?[2]

Das Thal, das des Bisenzio Flut benetzt,
War ihnen einst und ihrem Vater eigen.

58
Ein Leib gebar sie, und durchsuche jetzt

Kaina ganz, du findest sicher Keinen
Mit besserm Grund in dieses Eis versetzt –

61
Nicht ihn, deß Brust und Schatten einst durch einen[3]

Stoß seines Speers durchbohrt des Artus Hand,
Focaccia nicht, noch ihn, deß Kopf den meinen[4]

64
So deckt, daß mir die Aussicht gänzlich schwand,

Den, hörst du Sassol Mascheroni nennen,[5]
Du ein Toskaner, sicher leicht erkannt.

67
Jetzt hör’, um mir nur schleunig Ruh zu gönnen,

Ich, Camicion, hoff’ bald Carlin zu schau’n,[6]
Und werde neben ihm mich brüsten können!“

70
Und Hunden gleich, vom Froste blau und braun,

Sah tausend Fratzen ich empor sich heben,
Weshalb noch jetzt mir jedes Eis macht Grau’n.

73
– Und weiter ging’s zum Mittelpunkt zu streben,[7]

  1. 28 u. 29. Berge in Slavonien und Toskana.
  2. [183] 55. Unter den Verräthern ihrer Verwandten, die in Kaina bestraft werden, finden wir zuerst Alexander und Napoleon degli Alberti, deren Vater das Thal Falterona besaß, durch welches der kleine Fluß Bisenzio dem Arno zufließt. Nach dem Tode des Vaters geriethen sie in Streit über die Erbschaft und tödteten sich gegenseitig.
  3. 61. Mordrec, Sohn des fabelhaften Königs Arthur von Britannien, empörte sich gegen seinen Vater. Aber dieser kam der Frevelthat zuvor, indem er mit der Lanze den Sohn dergestalt durchbohrte, daß die Sonne durch die Wunde schien.
  4. 63. [Focaccio gehörte zum „schwarzen“ (ghibellinischen) Zweige der Cancellieri in Pistoja und ermordete seinen zum „weißen“ (welfischen) Zweig der Familie gehörigen Vetter Detto meuchlerisch.]
  5. 65. [Sassol Mascheroni meuchelte seinen Neffen, um des Erbes willen. Er wurde, an ein Faß genagelt, durch die Straßen von Florenz geschleppt und dann geköpft. Diese Strafe machte allgemeines Aufsehen, daher sich der Redende V. 65 ff. darauf beruft.]
  6. 68. Camicione, aus dem Geschlecht der Pazzi, ein Verwandten-Mörder, erwartet den Carlin, aus demselben Geschlechte, den er für einen weit ärgern Verbrecher hält. [Denn dieser verrieth ein von ihm für die Weißen behauptetes Castell endlich an die Schwarzen von Florenz. Weil dies erst 1302 geschah und Dante die Reise ins Jahr 1300 setzt, so muß Camicione es weissagen.]
  7. 73. Weiter zur zweiten Abtheilung Antenora (V. 88), welche die Verräther des Vaterlands enthält.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 182 bzw. 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_182183.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)