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94
Was seid ihr wiederspenstig jenem Wollen,

Das nimmerhin sein Ziel verfehlen kann?
Wird Er die Qual, wie oft, euch mehren sollen?

97
Was kämpft ihr gegen das Verhängniß an,

Obwohl eu’r Cerberus, ihr mögt’s bedenken,
Mit kahlem Kinn und Halse nur entrann?“

100
Dann sah ich ihn zurück die Schritte lenken.

Uns sagt’ er nichts, und achtlos ging er fort,
Als müss’ er ernst auf andere Sorgen denken,

103
Als die um kleine Ding’ am nächsten Ort.

Worauf wir beide nach der Festung schritten,
Nun völlig sicher durch das heil’ge Wort.

106
Auch ward der Eingang uns nicht mehr bestritten;

Und, ich, des Wunsches voll mich umzusehn
Nach dieser Stadt Verhältniß, Art und Sitten,

109
Ließ, drinnen kaum, das Aug’ im Kreise gehn,

Und rechts und links war weites Feld zu schauen,
Von Martern voll und ungeheuren Weh’n.

112
Gleichwie wo sich der Rhone Wogen stauen,

Bei Arles, und bei Pola dort am Meer,
Das Welschland schließt, und netzt der Grenze Gauen,

115
Grabhügel sind im Lande rings umher,

Wo auf unebnem Grunde Todte modern;
So hier, doch schreckte dieser Anblick mehr;

118
Denn zwischen Gräbern sieht man Flammen lodern,[1]

Und alle sind so durch und durch entflammt,
Daß Künste keine mehr vom Eisen fodern.[2]

121
[55] Halb offen ihre Deckel allesammt,

Und draus erklingen solche Klagetöne,
Daß man erkennt, wer drinnen, sei verdammt.

124
„„Wer, Meister,““ fragt’ ich, „„sind die Unglückssöhne,

Die, hier begraben, sonder Ruh noch Rast
Vernehmen lassen solch’ ein Schmerzgestöhne?““

127
Und Er: „Hauptketzer hält der Ort umfaßt,

Und die den Sekten angehangen haben,
In größrer Zahl als du gerechnet hast.

130
Denn Gleiche sind zu Gleichen hier begraben,

Und mehr und minder glüht jedwedes Maal.“
Er sprach’s, worauf wir rechtshin uns begaben,

133
Fortschreitend zwischen hoher Mau’r und Qual.
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Zehnter Gesang.
VI. Kreis, Fortsetzung. — Farinata, Cavalcante, Friedrich II.

1
Fort ging nun, hier die Mauer, dort die Pein,

Auf still verborgnem Pfad der edle Weise,
Er mir voraus und ich ihm hinterdrein.

4
„„Der du mich führst durch die verruchten Kreise,““

Sprach ich, „„ich wünsche, daß, wenn dir’s gefällt,


  1. 118–127.[WS 1] Die Ketzer sind zur Strafe eingeschlossen in Gräber, welche von Flammen durchglüht werden. Die Deckel derselben sind halb offen (sospesi, d. h. schwebend und so gestellt, daß sie sich zum Herablassen neigen). Einst beim Weltgerichte werden diese Gräber, wie wir Ges. 10 V. 10 erfahren, verschlossen werden. [Dante begreift unter „Ketzerei“ sowol im mittelalterlichen Sinn die Sektirer und Irrthumstifter als auch im Allgemeinen, wir könnten sagen, im protestantischen Sinn, die Irrreligiösen und Gottesläugner, die frechen Spötter gegen [55] die christliche Lehre, sowie gegen die Religion überhaupt. Daher sind auch Heiden hier, z. B. Epicur.] – Denn nur ein lebendiger Glaube an Gott, der da ist Einer in Dreien, in Macht, Liebe und Weisheit, an eine Versöhnung und ewige Vereinigung mit ihm, gibt der menschlichen Seele Leben. Dieser Glaube lag schon vor der Offenbarung durch Christus seinem Wesen nach in jedem reinen Gemüthe als Ahnung, die Gott hintergelegt hat. Wer von ihm abweicht, sei es, daß er ihn ganz verläßt, oder daß er ihn um des minder Wesentlichen willen aus den Augen verliert, ist, mag er Heide oder Christ sein, ertödtet, und er liegt im Grabe, ohne darin Ruhe zu finden. Denn Ruhe findet das Gemüth nur in jenem Glauben und wird ohne denselben gepeinigt von zweckloser Sehnsucht nach den irdischen Gütern, welche, wenn sie kaum erlangt sind, ihren Werth verlieren. Diese zwecklosen Wünsche sind Flammen, welche hier die Gräber durchglühen. Versinkt einst das Irdische ganz und mit ihm jeder Gegenstand eines solchen Wunsches, dann schließen sich die Gräber und der Unglückliche verliert sich ganz in der grauenvollen Nacht seines Bewußtseins.
  2. 120. D. h. Kein Kunsthandwerk braucht glühenderes Eisen zur Verarbeitung als hier diese Gräber glühten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Reihenfolge der vertauschten Anm. 118–127 und 120 korrigiert.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 54 bzw. 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_054055.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)