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Den Dioskorides, den Orpheus dann,
Den Seneca, der Schmerz und Lust verlachte.

142
Auch Ptolemäus kam, Euklid heran,

Tullius (Cicero), Averrhoes, der, seinen Weisen
Erklärend, selbst der Weisheit Ruhm gewann.

145
Doch nicht vermag ich Jeden hier zu preisen,[1]

Denn also drängt des Stoffes Größe mich,
Daß ihren Dienst mir kaum die Wort’ erweisen.

148
Um zwei verminderte die Sechszahl sich;

Mich führt’ auf anderm Weg mein weiser Leiter
Dahin, wo Stille lautem Tosen wich,

151
Und dorthin, wo nichts leuchtet, schritt ich weiter.
_______________

Fünfter Gesang.
II. Abtheilung. II. Kreis. Sünden der Liebe. Minos; Semiramis, Paris; Franziska und Paolo.

1
So ging’s hinab vom ersten Kreis zum zweiten,

Der kleinern Raum, doch größres Weh umringt,[2]
Das antreibt, Klag und Winseln zu verbreiten.[3]

4
Graus steht dort Minos, fletscht die Zähn’ und bringt[4]

Die Schuld ans Licht, wie tief sie sich verhehle,
Urtheilt, schickt fort, je wie er sich umschlingt.

7
Ich sage, wenn die schlechtgeborne Seele

Ihm vorkommt, beichtet sie der Sünden Last;
Und jener Kenner aller Menschenfehle

10
[31] Sieht, welcher Ort des Abgrunds für sie paßt,

Und schickt sie so viel Grad hinab zur Hölle,
Als oft er sich mit seinem Schweif umfaßt.

13
Von vielem Volk ist stets besetzt die Schwelle

Und nach und nach kommt Jeder zum Gericht,
Spricht, hört und eilt zu der bestimmten Stelle.

16
„Du, der du kommst zur Schmerzenswohnung,“ spricht

Minos zu mir, sobald er mich ersehen,
Ablassend von der Uebung großer Pflicht,

19
„Schau’, wem du traust! leicht ist’s hineinzugehen,

Und weit das Thor – nicht täusche dich dein Drang!“
Mein Führer drauf: „Wozu dies Schrei’n und Schmähen?

22
Nicht hindre den von Gott gebotnen Gang,

Dort will man’s, wo das Können gleich dem Wollen.
Nicht mehr gefragt, denn unser Weg ist lang.“

25
Bald hört’ ich nun, wie Jammertön’ erschollen,

Denn ich gelangte nieder zum Gefild
Zur Klag und dem Geheul der Unglücksvollen.

28
Hier schweigt das Licht; der dunkle Raum erbrüllt, [5]

So wie die See, wenn Stürme sich erhoben,
Und ihre Fläche wüthend überschwillt.

31
Der Höllenwindsbraut unaufhörlich Toben[6]

Reißt wirbelnd die gequälten Geister fort
Und dreht sie um nach unten und nach oben.

34
Da hört man Wehgeheul und Klagewort,

Wenn sie sich nah’n des Abgrunds Felsenküsten,
Und Flüch’ und Lästerungen schallen dort.


  1. 145 – 151. Die Sechszahl. Die vier V. 88–90 benannten Dichter; Virgil und Dante, die beiden letzteren, trennen sich von ersteren und nahen dem eigentlichen Straforte, dessen Beschaffenheit, im Gegensatze zu der des Vorhofs, in den beiden letzten Versen angedeutet ist.
  2. V. 2. Dieser Vers ist durch das, was oben über den Bau der Hölle gesagt ist, erläutert.
  3. 3. Im Vorhofe hört man nur Seufzer (Ges. 4, V. 25–27), hier lautes Wehklagen.
  4. 4. In dem mythologischen Minos, dem Richter der Todten, wie er hier vom Dichter ausgestattet ist, wird man wohl schwerlich eine tiefere allegorische Bedeutung finden. Genug, daß die mit großer plastischer Kunst uns dargestellte phantastische Gestalt ganz dem Schrecken des Orts entspricht.
  5. [31] 28. [Wörtlich: „ein von allem Lichte stummer Ort.“ Berühmtes herrliches Bild!]
  6. 31. In diesem Kreise finden wir die fleischlichen Sünder bestraft. Wie im Leben der unbändige Trieb sie rastlos umherjagte und ihnen alle Ruhe raubte, so hier der höllische Wirbelwind. Wie dort die Stimme der Begier sie willenlos gegen Felsen und zu Abgründen führte, wo ihr geistiges, vielleicht auch ihr leibliches Leben unterging, so hier im Orte der ewigen Strafen. Und in der Nähe der Gefahr klagen sie nicht sich selbst an, daß sie die von Gott ihnen verliehene Vernunft und Willensfreiheit vom wilden blinden Triebe unterjochen ließen, sondern sie fluchen noch immer blind und thöricht der göttlichen Allmacht und Tugend (la virtù divina). Vielleicht läßt der Dichter sie eben hier, an den Felsentrümmern, diese Flüche ausstoßen, weil, wie wir weiter unten erfahren werden, der Fels durch [32] das Erdbeben beim Tode Christi zertrümmert wurde, sie daher dabei verzweifelnd an die Erlösung denken, die ihnen nicht zu Theil ward.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 30 bzw. 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_030031.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)