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Der durch die Luft hier bebt im ewigen Thal,[1]
Nicht Klaggeschrei, nur Seufzer dumpf und leise.

28
Und dieses kam vom Leiden ohne Qual

Der Kinder, Männer und der Frau’n, in Schaaren,
Die viele waren und von großer Zahl.

31
Da sprach der Meister: „Willst du nicht erfahren:

Zu welchen Geistern du gekommen bist?
Bevor wir fortgehn, will ich offenbaren,

34
Daß sie nicht sündigten; doch gnügend mißt

Nicht ihr Verdienst, da sie der Tauf’ entbehrten,
Die Pfort’ und Eingang deines Glaubens ist.

37
Und lebten sie vor Christo auch, so ehrten

Sie doch den Höchsten nicht, wie sich’s gebührt;[2]
Und diese Geister nenn’ ich selbst Gefährten.

40
Nur dies, nichts Andres hat uns hergeführt.[3]

Daß wir in Sehnsucht ohne Hoffnung leben,
Ward uns Verlornen nur als Straf’ erkürt.“

43
Groß war mein Schmerz, als er dies kund gegeben,

Denn Leute großen Werthes zeigten sich,
Die unentschieden hier im Vorhof schweben.

46
Und ich begann: „„Mein Herr und Meister, sprich,[4]

(Ich wollte mich in jenem Glauben stärken,
Vor dessen Licht des Irrthums Nacht entwich,)

49
[27] Kam Keiner je durch Kraft von eignen Werken,

Durch fremd Verdienst von hier zur Seligkeit?““ –
Er schien des Worts versteckten Sinn zu merken,

52
Und sprach: „Ich war noch neu in diesem Leid,

Da ist ein Mächtiger hereingedrungen.
Bekrönt mit Siegesglanz und Herrlichkeit.

55
Der hat des Urahns Geist der Höll’ entrungen,

Auch Abel’s, Noah’s; und auch Moses hat,
Der Gott gehorcht, mit ihm sich aufgeschwungen.

58
Abram und David folgten seinem Pfad,

Jakob, sein Vater, seine Söhne schieden,
Und Rahel auch, für die so viel er that.

61
Sie und viel’ Andre führt er ein zum Frieden,

Und wissen sollst du nun: Vor diesem war
Erlösung keinem Menschengeist beschieden.“

64
Obwohl er sprach, ging’s vorwärts immerdar,

So daß wir unterdeß den Wald durchdrangen,
Den Wald, mein’ ich, der dichten Geisterschaar.

67
Nicht weit von oben waren wir gegangen,[5]

Als ich ein Feu’r in lichten Flammen sah,
Die dort im halben Kreis die Nacht bezwangen.[6]

70
Zwar waren wir dem Ort nicht völlig nah,

Doch einen Kreis von ehrenhaften Leuten,
Die diesen Platz besetzt, erkannt’ ich da.

73
„„Du, deß sich Wissenschaft und Kunst erfreuten,

Beliebe, wer sie sind, und was sie ehrt
Und von den Andern trennt, mir anzudeuten.““

76
Ich sprach’s, und Er: „Für hochgepries’nen Werth,

Der oben wiederklingt in deinem Leben,
Ward ihnen hier vom Himmel Huld gewährt.“

79.
Da hört’ ich eine Stimme sich erheben:

Der hohe Dichter, auf, jetzt zum Empfang![7]
Sein Schatten kehrt, der jüngst sich fortbegeben.


  1. 26. „Im ew’gen Thal.“ Alles in der Hölle ist ewig.
  2. 38. Diejenigen, die vor Christo gelebt, haben Gott nur dann gebührend geehrt, wenn sie an den künftigen Heiland geglaubt haben. Vgl. Paradies Gesang 32; auch Ges. 20, V. 103 f.
  3. 40. Diejenigen, die zwar menschlich würdig, aber ohne Glauben leben, können alles Irdische erlangen, nur die Ahnung und Hoffnung des höchsten Lichtes bleibt ihnen verschlossen. Und da Alles, was die Erde gibt, nie das Gemüth befriedigt, so verfließt ihr Leben in ewig ungestillter Sehnsucht nach einem unbekanntem Ziele. So finden wir die Seelen in diesem Kreise, welcher noch nicht zum eigentlichen Straforte gehört, sondern den Vorhof desselben bildet. Sie genießen die Schönheit der Erde wieder in dem Grün der Wiese und in dem schönen Flusse; sie genießen die Kunst, die das Leben verschönt; auch der Schein des Lichtes fehlt ihnen nicht, – aber es ist nicht das himmlische, und so bleiben sie in der Mitte aller von der Milde des Himmels ihnen gestatteten Genüsse, selbst im Bewußtsein eines würdigen Lebens, dennoch Verdammte.
  4. [46. Dante läßt durch Virgil, der ja selbst vor Christo starb, die Lehre von Christi Höllenfahrt vortragen, wodurch die dortigen Erzväter [27] auferstanden. Er nennt diese Lehre V. 47 eine Stärkung des Glaubens.
  5. 67. Nicht weit vom Abhang, der zwischen der Vorhölle und diesem ersten Kreis liegt.
  6. 69. Fast unübersetzbar. Eigentlich eine erleuchtete Halbkugel.
  7. 80. Virgil wird von den Andern begrüßt.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 26 bzw. 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_026027.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)