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Doch bis zum Fuß des Hügels vorgerückt,[1]

Dort, wo die Grenze war von jenem Thale,
Das mir mit schwerer Furcht das Herz gedrückt,

16
Schaut’ ich empor, und sah, den Rücken male

Ihm der Planet, der uns auf jeder Bahn
Gerad zum Ziele führt mit seinem Strahle.

19
Da fingen Angst und Furcht zu schwinden an,

Die mir des Herzens Blut erstarren machten,
In jener Nacht, da Grausen mich umfahn.

22
Und so wie athemlos, nach Angst und Schmachten,[2]

Schiffbrüchige, noch von der Fluth durchnäßt,
Vom Strande starr der Wogen Grimm betrachten,

25
So kehrt’ auch ich, noch schwer das Herz gepreßt,

Mich jetzt zurück, nach jenem Passe sehend,
Der Keinen lebend sonst aus sich entläßt.

28
Den Leib gestärkt durch Ruhe, weiter gehend,

Wählt’ ich bergan den Weg zur Wildniß mir,
Fest immer auf dem tiefern Fuße stehend.

31
Sieh, beim Beginn des steilen Weges, schier

Bedeckt mit buntgeflecktem Fell die Glieder,[3]
Gewandt und sehr behend ein Pantherthier.

34
Nicht wich’s von meinem Angesichte wieder,

Und also hemmt’ es meinen weitern Lauf,
Daß ich mich öfters wandt’ in’s Thal hernieder.

37
Am Morgen war’s, die Sonne stieg herauf,[4]

Von jenen Sternen, so wie einst umgeben,
Als Gottes Lieb’ aus ödem Nichts herauf

40
[9] Die schöne Welt berief zu Sein und Leben;

So ward durch jenes Thier mit buntem Haar
Anlaß zur Sorge doch mir nicht gegeben,

43
Zu solcher Stund’, im süßen, jungen Jahr –

Wenn Grund zur Furcht mir alsbald nicht erregte[5]
Nunmehr ein Löwe, den ich ward gewahr!

46
Es schien, daß er sich gegen mich bewegte,

Erhobnen Haupt’s und mit des Hungers Wuth,
So daß er Zittern selbst der Luft erregte.

49
Auch eine Wölfin, welche jede Glut [6]

Der Gier durch Magerkeit mir schien zu zeigen,
Die schon auf Viele schweren Jammer lud.

52
Vor dieser mußte so mein Muth sich neigen,

Aus Furcht, die bei dem Anblick mich durchbebt,
Daß mir die Hoffnung schwand, zur Höh’ zu steigen.

55
Wie der, der eifrig zu gewinnen strebt,

Wenn zum Verlieren nun die Zeit gekommen,
In Kümmerniß und tiefem Bangen lebt:

58
So machte dieses Unthier mich beklommen;

Von ihm gedrängt, mußt’ ich mich rückwärts ziehn,
Dorthin, wo nimmer noch die Sonn entglommen.


  1. 13 ff. [Emporschauend auch aus der Nacht des Irrthums sieht der Mensch immer die Höhe des Heils von der Sonne der Wahrheit beschienen.]
  2. 22 ff. 28. [Der erste Rückblick auf das entronnene Verderben gibt Muth zum langsamen, vorsichtigen, Fuß für Fuß setzenden Weiterschreiten.]
  3. 32–36. Aber noch sollen wir nicht ungestört emporklimmen. Die Lust der Sinne – der Panther – tritt zuerst und so lange der Körper noch jugendlich frisch ist, uns feindlich entgegen, und hemmt unsere Fortschritte zu dem Höhern. Droht sie auch den bessern Vorsatz in uns zu vernichten, so erscheint sie doch in minder abschreckender Gestalt, ja anziehend durch Munterkeit und Frische.
  4. 37–43. Aber wenn nun eben die Sonne der Wahrheit uns den [9] Morgen hat tagen lassen, wenn wir die Welt in neuem Glanze liegen sehen, dann schöpfen wir Muth, das Höhere zu erreichen. (Die Reise des Dichters wird, wie bedacht, in der heiligen Woche, im Beginne des Frühlings unternommen, in der Jahreszeit, in welcher das erneute Leben der Natur in uns selbst Muth und Hoffnung erneuert, und in welcher, wie der Dichter V. 38–40 vorausgesetzt, Gott die Welt erschaffen hat. Die Sonne steht zu dieser Zeit im Widder.)
  5. 44. Wenn die sinnliche Begier der Jugend sich auch mindert, so ist es der Ehrgeiz (der Löwe), welcher die kräftigeren Naturen von dem wahren Ziele echt menschlicher Bildung, von dem Streben nach dem einzig Wahren und Göttlichen ableitet – in seinem Uebermaße die mächtigste, furchtbarste der Leidenschaften, besonders in Zeiten politischer Parteiung, sei es, daß der Mensch selbst sie in sich empfindet, oder daß er ihr Opfer wird.
  6. 49–60. Endlich erscheint die Habsucht – die Wölfin –, welche alles irdische Gut an sich zu reißen strebt, und um so weniger befriedigt ist, je mehr sie verschlingt. Keine schlechte Leidenschaft, kein Laster ist, mit welchen sie sich nicht verbände, zu welchen sie nicht führte (vergl. V. 97–100). Sie, die gemeinste Leidenschaft, nie rastend, weil es ihr nie an einem Gegenstande fehlt, ist es, die dem Menschen auf dem Wege zum höhern Ziele am gefährlichsten wird, die dem [10] Dichter alle Hoffnung, es zu erreichen, raubt, und ihn zur Tiefe zurückstürzt. [Man denke hier auch an politische Beziehungen, an Rom’s alles an sich reißende Gier!]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 8 bzw. 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_008009.jpg&oldid=- (Version vom 23.10.2017)