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Und blickt die Tochter so zufrieden an,
Daß sie den Blick nicht abkehrt beim Hosianna.

136
Und gegenüber sitzt dem ersten Ahn

Lucia, die die Herrin dir gesendet,
Als du den Blick gesenkt zur schlimmen Bahn.

139
Doch bald ist nun dein hoher Traum beendet,[1]

Drum thun wir, wie der gute Schneider thut,
Der, so viel Zeug er hat, in’s Kleid verwendet.

142
Die Augen richten wir auf’s höchste Gut,

Und dringen so, indem wir nach ihm sehen,
So tief als möglich in die reine Glut.

145
Doch wahrlich, soll’s mit dir nicht rückwärts gehen,

Ob vorwärts sich dein kühner Flügel schwingt,
Ist durch Gebet erst Gnade zu erflehen,

148
Gnade von Jener, die dir Hülfe bringt;

Und folgen wirst du mir, wenn deine Liebe
Zu Ihr empor in meinem Worte dringt.“

151
Und also betet’ Er mit brünst’gem Triebe:[2]
_______________



  1. [139 ff. Hier, wie Ges. 17, 128 (nach dem Original) und 33, 61, nennt D. selbst sein Gedicht einen „Traum“ oder eine „Vision“. Er will das, zuvor mit dem hundertsten Gesange beschlossene, Ende desselben andeuten. Unläugbar ist aber der Vergleich, womit er dies in V. 140 bewerkstelligt, nicht eben geschmackvoll. Quandoque dormitat –.]
  2. [151. Mit diesen letzten Versen von 142 an soll auf Grund des Vorangegangenen das Programm des noch Bevorstehenden, und zwar in scharfer Präcisirung, kurz hingestellt werden. Dasselbe lautet dahin, daß nun, nach erfülltem Grundbedingniß der Verleihung des lumen gloriae (S. 585) an Dante und nach erfolgter Anschauung und Betrachtung des Reichs der Herrlichkeit, als unmittelbaren Abbildes Gottes (I. II. Stufe; S. 585 ff.), dasjenige eintritt, was wir eben dort die III. Stufe genannt haben, nämlich die Anschauung der Gottheit selbst an sich, soweit und so tief solche für den creatürlichen Geist möglich ist, V. 144 mit Ges. 30, 19 ff. und 79 ff. Jedoch dies auch jetzt noch nicht ohne Weiteres. Bernhard betont zuvor die Nothwendigkeit des Gebets bis zum letzten Ziele V. 145-147, und zwar das Gebet zu Maria V. 148 und beginnt dann sofort selbst zu beten V. 151. – Hier nun erhebt sich die Frage, nicht sowohl, „warum Beatrix dem heil. Bernhard das Führeramt Dante’s auch jetzt noch überlasse und dieser nur den Dichter zum allerletzten Ziele zu bringen vermögend sein soll“ (Notter) – sondern vielmehr, wozu es überhaupt jetzt noch der Gegenwart und des Eingreifens eines Dritten, speciell des heil. Bernhard, [609] bedurft und warum nicht D. das Folgende, worauf sich Bernhards Thätigkeit auch beschränkt, selber gethan, nämlich selber gebetet habe? Denn nachdem der Heilige bisher in stellvertretender Weise die Erklärung der Himmelsrose anstatt Beatrix zu Ende geführt, weil D. die Absicht hatte, die letztere selbst noch verklärt dort oben zu zeigen – „ein freies Lehreramt“ (32, 3), obwohl im Auftrag der Beatrix, welches in keiner Weise unklar oder auffallend war, (Anm. Ges. 31, 58; S. 596), – so sehen wir ihn jetzt unstreitig selbständiger auftreten (S. 595 u.). Da aber nach Allem, was geschehen, was insbesondere noch in Ges. 30 (s. unsre Vorbem., I. Stufe) geschehen, was noch einmal in Ges. 31, 85, 89, 113; 33, 51 als volle Gnadenfreiheit und Himmelsreife des Dichters betont ist, dieser eines Führers, einer von außen kommenden Vermittlung nicht mehr bedurfte, so kann also auch die Bedeutung des heil. Bernhard für den bevorstehenden Schlußgesang hierin nicht liegen. Und wenn man, wie die meisten Erklärer, darüber mit der Bemerkung hinweggeht, daß Bernhard eben die Personification der mystischen Gottversenkung seie, so ist mit dieser unbestreitbaren Thatsache (s. S. 587) noch nicht erklärt, was er als solche Personification hier noch zu thun habe. Sowohl als Allegorie, wie als blose poetische Staffage, – übrigens etwas bei Dante Unmögliches! – genommen, erscheint dieselbe auf den ersten Blick gleich überflüssig. Denn nach dem letzten Gedanken der ganzen Entwicklung in der göttl. Kom. sollte jetzt eigentlich Dante selbst diese Personification in sich darstellen, sollte Dante selbst, als der aus dem ewigen Licht unmittelbar getrunken (Ges. 30, 73) und vor Gottes Thron getreten ist, am Ziel und im status jener tiefsten Gottversenkung und zugleich höchsten Gottnähe, welche wir auch im heil. Bernhard sehen, angelangt sein. Und dies ist er auch dem Geiste nach. Aber sofern nicht blos die „Anschauung“ Gottes im frommem Gemüthe, sondern auch das eigentliche Schauen Gottes im Jenseits in seinem wesentlichen Licht das Ziel der Paradiesdarstellung bildet, dieses letztere aber einen, auch dem Leibe nach, verklärten Geist erfordert: so ist Dante in diesem Sinne noch nicht vollkommen in jenen, zum vollen Schauen befähigenden Stand eingetreten. Und er kann es auch nicht; denn er ist und bleibt noch Sterblicher. Im Leibe hat er seine visionäre Reise gemacht; im Leibe muß er in’s Leben zurück, dem Geschauten nachzustreben. Dies geht nicht [610] nur aus dem ganzen Gedicht hervor, sondern wird auch gerade jetzt nochmals in mehreren Stellen und von Bernhard selbst, gewiß nicht ohne Absicht, in Erinnerung gebracht, nämlich in V. 139 unsres und V. 34–37 des letzten Gesanges. In der einen Stelle spricht er von Dante’s hohem Traum, der nun bald zu Ende gehe; in der andern bittet er um momentane Wegnahme der „Wolke seiner Sterblichkeit“, des, das Schauen hindernden Einflusses der Sterblichkeit, wornach also diese selbst bestehen bleibt und für sein weiteres Leben wieder in ihr Recht tritt, V. 37.
    Konnte also der Dichter bis hieher die ganze großartige, psychologische Entwicklung des Menschenherzens unter der Leitung von Vernunft und Gnade, welche seiner Wanderung zu Grunde liegt, an sich selber, dem permanenten Mittelpunkt des Ganzen, zur völligen typischen Darstellung bringen – so kann er dies nicht mehr völlig von dem Punkte an, wo, wie es jetzt der Fall ist, nach dem Abtreten der Beatrix, die Erreichung des letzten Zieles über das Geistig-Innerliche hinaus in’s Geist-Leibliche, in den Zustand der Verklärung hinüberspielt. Darum bedarf er hier, nicht im Mindesten zwar einer neuen Vermittlung, aber einer zuspitzenden Ergänzung für seine (typische) Selbstdarstellung. Dies ist Bernhard und hierin dürfte die Antwort auf unsre ganze Frage zu suchen sein. Er repräsentirt also hier nicht die Mystik schlechtweg, noch seinen geschichtlichen Mysticismus; sondern die Gottversenkung, die Vergottung in ihrer jenseitigen, verklärten Vollendetheit, worin sie unmittelbar auch reales Gottschauen ist. Und er repräsentirt diese nicht als eine von Außen hinzukommende, sondern als eine innerliche Ergänzung Dante’s, also weder im Gegensatz zu ihm, noch für ihn oder statt ihm, vielmehr gleichsam als dieser selbst, aus ihm, aus seinem jetzigen Zustand heraus, als dessen eigene höchste Potenz, als dessen präformative Objektivirung. Als solcher geleitet (aber nicht: leitet) er dann den Dichter bis zum letzten Ziele; als solcher spricht er Ges. 33 jenes Gebet, das auch Dante jetzt schon beten könnte und das doch nur ein Verklärter so beten kann: so voll kühnen Sich-Einsfühlens mit Maria (der ewigen Liebe, wie wir sehen werden) und mit der Gesammtheit der Seligen, wie in V. 1 ff.; 34 ff.; 38 ff., so voll hocherhabenen Herabschauens auf die Sterblichkeit, wie V. 31–37 und so voll siegesgewisser Erfahrung, daß auch die letzte, mit der Sterblichkeit zusammenhängende „Wolke“, d. h. Verdunkelung (V. 31 s. oben), in Kraft der ewigen Liebe (V. 32), von einem, in Gott gesundeten Herzen, trotz noch übriger irdischer Neigung auf Erden (V. 36. 37), einst werde völlig weggenommen werden, wie dies jetzt, zur Bürgschaft dessen, für einen Augenblick bei Dante geschieht (V. 35; s. oben ebendort.) – Und zu dieser ganzen Auffassung Bernhards und seines Gebetes selbst, welch’ letztere wir hier gleich im Zusammenhang [611] anschließen wollten und nachher bei Ges. 33 zu vergleichen bitten, scheinen uns insbesondere endlich auch die, dasselbe einleitenden Worte V. 140 ff. unsres Gesanges zu stimmen. Hier nimmt Bernhard sich mit dem Dichter und den Dichter mit sich constant in die erste Person des „wir“ zusammen. Er fordert ihn nicht auf: „richte dein Auge auf’s etc.“, noch sagt er: „ich führe dich etc.“, sondern er spricht von ihnen beiden als von einer Person und identifizirt hier, wie auch 33, 28 ff., des Dichters Intentionen völlig mit den seinigen und umgekehrt, als wie dessen alter ego, dessen anderes, und zwar himmlisch-verklärtes Ich. Und auch V. 150, welcher wörtlich lautet: „daß dein Herz sich von meinem Worte nicht trenne,“ nebst Ges. 33, 25: „er fleht zu dir“, darf man gewiß nicht mir Unrecht als eine Erklärung des Heiligen nehmen, daß er nicht eigentlich für Dante bete, sondern nur eben wie aus dessen eigener Seele heraus, als dessen (potenzirter; s. oben) Sprecher, doch nicht Fürsprecher.
    Mag nun auch die hier versuchte Deutung des heil. Bernhard und seines Auftretens in den Schlußgesängen der göttl. Kom., wie wir nicht verkennen, ihre Schwierigkeiten haben, besonders in Anwendung auf Ges. 33, 31 ff. (s. S. 610 u.), so stimmt mit ihr doch, wie ebendort dargelegt worden und noch zu Ges. 33, 43 sich bestätigen wird, der ganze Geist und Hauptinhalt seines Marien-Gebets und sie hat nichts dem ganzen Entwicklungsgang der göttl. Kom. Zuwiderlaufendes, was doch bei der Annahme einer allerletzten Vermittlungsrolle des Heiligen der Fall wäre. Denn wir können uns wohl denken, daß eine Beatrix, daß die göttl. Gnade den Menschen auf Erden und im Himmel führt und fördert; aber durchaus nicht, daß nach Vollendung ihrer Mission noch einmal ein anderes, also doch höheres Princip möglich und nöthig sei zur Erreichung dessen, was ja eben die Gnade erstrebt und schon erreicht hat am Menschen, nämlich der Gottesanschauungs-Fähigkeit. Erinnern wir uns dagegen, daß dieser völligen Erreichung des Zieles bei D., aus den oben dargelegten Gründen, doch noch das Siegel der Verklärung fehlt, so sehen wir, wie wohl Bernhard berufen sein kann, hier vielmehr die Selbstdarstellung Dante’s zu ergänzen, sie ohne Unterbrechung und ohne Ausschließung des Dichters, diesen in sich begreifend, fortzusetzen. Und so dürfte schließlich zusammenfassend gesagt werden: Auf Grund der, an dem Dichter innerlich vollbrachten Gnadenführung der Beatrix und daher im Anschluß an deren Verschwinden, bildet Bernhard die Vorausdarstellung der, auch bis in’s Aeußere und zu allseitigen Vollendung fortgeschrittenen Verklärung desselben, in welcher er einst allein, wenn sein in Ges. 31, 89 ausgesprochener Wunsch erfüllt sein wird, der im Folgenden beschriebenen Schau wirklich genießen wird. Es ist also zugleich hier die relativ höchste und letzte Stufe der Seligkeit (4, 28 ff.) gemeint, welche ja durch’s ganze Paradies angestrebt [612] ist und in ihrem Ziel, der, vergleichungsweise tiefsten, erreichbaren Gottesschau, auch im vorstehenden V. 144 dem Dante durch Bernhard selbst vorgezeichnet wird. Und so rechtfertigt sich denn des Letzteren, schon zu Gesang 31, 102 besprochene, Wahl auf’s Klarste; seine typische Bedeutung erscheint als auf realer, historischer Grundlage ruhend. Denn er ist ein Hervorragender unter den gottinnigen Heiligen auf Erden (31, 110 ff.), ist auch ein hervorragender Seliger im Himmel; hier wie dort auf höchster Stufe stehend ist er die geeignete Person zu dem, was er an vorliegender Stelle repräsentiren soll.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_608.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2019)